Nein, Schule mag sie nicht. Die 18-jährige mit den langen, dunkelblonden Haaren schlägt sich fröstelnd die Kapuze über den Kopf. Judith besucht ein Gymnasium im westlichen Ruhrgebiet. Im April wird sie ihren letzten Schultag haben, dann noch für die Prüfungen pauken und dann war‘s das mit Penne. Sie muss schmunzeln, wenn sie an ihren ersten Schultag vor knapp 12 Jahren denkt. Sie hatte sich so darauf gefreut. Doch schon in der dritten Klasse sah das anders aus. Vielleicht ist sie zu rebellisch. Sie konnte nie verstehen, warum sie gerade das lernen musste, was sie nicht interessierte. Und dann hatte sie auch Pech mit den Lehrerinnen. Die Grundschullehrerin heulte manchmal vor der ganzen Klasse. Und auf der Oberschule hatte Judith eine Klassenlehrerin, der wuchsen so dicht die Haare aus den Achseln, dass die Kinder immer feigsten, dass die alte Dame bestimmt Topfschwämmchen unter die Arme geklemmt habe. Machen denn Äußerlichkeit eine gute Lehrerin aus? „Die war auch sonst so“, antwortet die hochgewachsene Oberschülerin. Immer, wenn sie einen Lehrer oder eine Lehrerin mochte, dann war sie auch gut in dem Fach. Der Englischlehrer vor drei Jahren war ein Chaot, „Wie der Typ bei FACK JU GÖHTE!“, erklärt Judith. „Der hat uns jeden Scheiß erlaubt.“ Da stand sie in Englisch Eins. „Und jetzt Fünf“, ergänzt das Mädchen grinsend. Ihre momentane Englischlehrerin sei doof. Deshalb habe sie auch keinen Bock, etwas für das Fach zu tun. Ansonsten hat sie Glück mit ihren Lehrern. Alle irgendwie okay. Sie wird wohl einen Schnitt von 2,5 im Abi schaffen. Irgendwie, so rutscht es der Schülerin am Ende des Gespräches heraus, wird sie die Schule doch vermissen. Nicht den Unterricht, aber die Pausen.
Judith ist kein Einzelfall. Trotz vieler Reformbemühungen ist die Schule kein Ort allgemeiner Glückseligkeit geworden. Grundsätzlich stellt sich die Frage, welche Lerninhalte wichtig sind. Die alte Schule, die sich als Trichter begreift, dessen Funktion es ist, möglichst viel Wissen in die Köpfe der Kinder zu füllen, scheint passé. Aber das große Aufräumen, das sich viele Pädagogen von der Einführung des Turbogymnasiums erhofften, blieb doch aus. Statt effizienteres Lernen zu ermöglichen, wurden zusätzliche Unterrichtsstunden auf die Nachmittage verlegt. Oberschüler müssen so an manchen Tagen bis zu 11 Stunden absolvieren. Auch die anderen Schulformen, Haupt-, Real- und Gesamtschule kämpfen mit dem Problem, dass zu viel in zu kurzer Zeit gelehrt werden muss. Dabei soll es, so der Wille der schulpädagogischen Fachwelt, viel mehr darum gehen, das Lernen zu erlernen. Die Informationsflut der digitalen Gesellschaft macht es nicht mehr nötig, dass 11-jährige alle Nebenflüsse des Rheins von Süd nach Nord aufsagen können. Ein kritisches Hinterfragen und auch ein sinnvolles Verknüpfen von Informationen sind inzwischen viel wichtiger als das Reproduzieren längst bekannter Fakten. Hier hat sich die Schule zwar schon partiell gewandelt, trotzdem scheint es, dass sie in diesem Punkt noch nachsitzen muss.
Eine andere Baustelle ist auch noch nicht fertig. Noch nie waren die Schülerinnen und Schüler ein so heterogener Haufen wie jetzt. Die Trennung der Geschlechter wurde ja bereits in den frühen 1970-er Jahren peu à peu aufgehoben. Da inzwischen aber etwa 40 Prozent eines Jahrgangs in NRW das Gymnasium besucht, sind die klaren Klassengrenzen, die noch zur Adenauerzeit das Schulsystem prägten, nicht mehr so entscheidend. Grundsätzlich gilt nach wie vor, dass die Herkunft über die Schullaufbahn entscheidenden Einfluss hat, dies bemängeln internationale Beobachter regelmäßig am hiesigen Schulsystem. Auch geht die Schere wieder weiter auf. Aber es gibt sie zumindest, die Kinder aus sozial schwachen Familien auf Oberschulen. Vor 50 Jahren gab es so gut wie keine Proletarierkinder auf Gymnasien. Auch die kulturelle Vielfalt hat in den letzten Jahrzehnten erheblich zugenommen. Schülerinnen und Schüler mit Migranten als Eltern oder Großeltern sind eher die Regel als die Ausnahme. Diese Vielfalt mag beängstigen, sie kann aber auch als Chance gesehen und genutzt werden. Neben dem Lernen des Lernens ist also die Vermittlung von Sozialkompetenz wichtig geworden. In diesem immer bunter werdenden Land muss Integration kultiviert werden.
Ein Paradoxon wird hierbei allerdings sichtbar. Schulministerin Sylvia Löhrmann versucht seit Jahren ihr Herzensprojekt Inklusion in die Praxis umzusetzen. Gleichzeitig gelingt es noch nicht einmal die Kinder und Jugendlichen von Haupt-, Realschule und Gymnasium auf eine gemeinsame Schule zu inkludieren. Gerne schickt man diejenigen, die scheitern oder stören, auf die nächst weniger qualifizierte Schulform. Vielleicht sollte unsere Schulministerin den anderen Schulen zunächst die Exklusion abgewöhnen, bevor sie von Inklusion schwärmt. Oder wir erklären alle Schulen zu Förderschulen. Dort nämlich wird mit gut ausgebildeten Pädagogen und einem sehr viel besserer Stellenschlüssel gearbeitet. Vielleicht würde auch Judith wieder gern zur Schule gehen, würde sie eine gymnasiale Förderschule besuchen.
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter:
www.engels-kultur.de/thema
www.choices.de/thema
Aktiv im Thema:
www.amg-koeln.de/theatermedien/theatermedienklassen.html
www.ruhrfutur.de
www.planerladen.de
www.mit-menschen-wuppertal.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Wissenschaft hat immer mit Herrschaft zu tun“
Wilfried Bos über die Weiterentwicklung des Bildungssystems – Thema 03/14 Wozu Schule
Bildungschancen von benachteiligten Jugendlichen verbessern
Mark Becker über die Ideen und Aufgaben der Initiative RuhrFutur – Thema 03/14 Wozu Schule
Kinder auffangen
SchülerInnen aus Südosteuropa stranden – nicht in Dortmund – Thema 03/14 Wozu Schule
Non scholae, sed vitae discimus
Auch das Lesen unsichtbarer Wörter kann bilden – Thema 03/14 Wozu Schule
Werben fürs Sterben
Teil 1: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Es sind bloß Spiele
Teil 2: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Europäische Verheißung
Teil 1: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Demokratischer Bettvorleger
Teil 2: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 1: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Friede den Ozeanen
Teil 2: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Der andere Grusel
Teil 1: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 2: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Wildern oder auswildern
Teil 1: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 2: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört
Von leisen Küssen zu lauten Fehltritten
Teil 1: Leitartikel – Offene Beziehungen: Freiheit oder Flucht vor der Monogamie?
Durch dick und dünn
Teil 2: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
Pippis Leserinnen
Teil 3: Leitartikel – Zum Gerangel um moderne Lebensgemeinschaften
Verfassungsbruch im Steuer-Eldorado
Teil 1: Leitartikel – Die Reichsten tragen hierzulande besonders wenig zum Gemeinwohl bei
Sinnvolle Zeiten
Teil 2: Leitartikel – Wie Arbeit das Leben bereichern kann
Über irrelevante Systemrelevante
Teil 3: Leitartikel – Wie Politik und Gesellschaft der Gerechtigkeitsfrage ausweichen