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„Sozialer und politischer Sprengstoff“

26. August 2020

Soziologe Andreas Reckwitz über gesellschaftliche Dynamik in Metropolen – Über Tage 09/20

trailer: Herr Reckwitz, als Sie in den 70er Jahren im Ruhrgebiet aufwuchsen, studierten seit einigen Jahren die ersten Menschen im Ruhrgebiet, während das Ende des Bergbaus bereits feststand. Herrschte Aufbruchstimmung oder zog es einen eher in Metropolen wie Berlin und Frankfurt?

Andreas Reckwitz: Ich bin 1970 in Witten geboren, Ende der 70er Jahre ist meine Familie nach Dortmund gezogen und dort bin ich in den 80er Jahren auch aufs Gymnasium gegangen. In dieser Zeit war der Strukturwandel des Ruhrgebiets schon ein großes Thema, das Ende des Bergbaus und der Schwerindustrie. Ich habe Dortmund und Witten eigentlich gar nicht mehr als klassische Industriestädte erlebt. Es war bereits viel von Industriedenkmälern die Rede und die Industrie kannte ich nur noch aus dem Bergbau-Museum in Bochum. Gerade im Dortmunder Süden war die neue Universität bereits sehr präsent, das kulturelle Leben in der Stadt war lebendig – ich erinnere mich an das Schauspielhaus unter Guido Huonder. Dortmund war Einkaufsstadt, ich habe da schon Urbanität erlebt. Also: Die Tertiarisierung war im vollen Gange, Aufbruchsstimmung wäre zu viel gesagt – es gab ja schon eine hohe Arbeitslosigkeit, das wusste man; aber es war auch keine Stimmung von Abgehängtsein oder Abbau. Es gab in meiner Generation keine „Nichts wie weg“-Stimmung, trotzdem bin ich nach dem Abitur nach einer kurzen Station im Rheinland nach Hamburg gezogen, zehn Jahre später dann nach Berlin. Das haben in meiner Generation einige gemacht.

Kreativität und Kultur gelten als die neue Kohle im Ruhrgebiet, die in der Jahrhunderthalle, im Zollverein usw. gefördert wird. Ist das der Ruf nach einer digitalen Mittelklasse, die in den nächsten Jahren nach Herne oder Gelsenkirchen strömt?

Das ist generell die Herausforderung der alten Industriestädte in allen westlichen Gesellschaften – in Detroit, Rotterdam, Glasgow etc. Es fand eine Deindustrialisierung statt und die neue Wertschöpfung der Ökonomie kommt primär aus dem tertiären Sektor der IT-Branche, der Gesundheit, der Kreativbranche, Kultur und Bildung etc. Das ist eine Wissensökonomie. Und die Wissensarbeiter, häufig Hochschulabsolventen, bilden eine neue, häufig räumlich mobile Mittelklasse. Das ist aber ein Prozess, der nirgendwo reibungslos verlaufen ist. Teilweise verlief der Strukturwandel erfolgreich, aber es hat zweifellos auch Verlierer gegeben. Und nicht jede Stadt ist im neuen Attraktivitätswettbewerb um Bewohner, Investoren und Besucher siegreich.

„Nicht jede Stadt ist im neuen Attraktivitätswettbewerb siegreich“

Sie sprechen in Ihrem Drei-Klassen-Modell unter anderem von einer kreativen und bildungsorientierten neuen Mittelklasse. Ich kann mir vorstellen, dass sie sich in Metropolen wie Berlin oder Hamburg vorweisen lässt. Aber inwiefern zeichnet sich diese Klasse im Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von über 20 Prozent ab?

Für die Sozialstruktur seit den 1980er Jahren ist tatsächlich kennzeichnend, dass die nivellierte Mittelstandsgesellschaft der Industriegesellschaft – mit den Facharbeitern und den kleinen Angestellten als breiter Mitte – aufgebrochen ist. Mit der Bildungsexpansion ist eine breite, neue Mittelklasse von Akademikern entstanden; andererseits gibt es eine neue service class, eine prekäre Klasse oder Unterklasse von Niedrigqualifizierten; dazwischen die geschrumpfte alte Mittelklasse. Das kann man pauschal für die westlichen Gesellschaften insgesamt sagen, aber es gibt regionale Unterschiede. Eigentlich sind in den Metropolregionen die Akademiker der neuen Mittelklasse überdurchschnittlich vertreten, das kann bis zu 40 Prozent gehen und wirkt auf die Städte prägend, etwa in Berlin, Hamburg, München, Köln oder Frankfurt. Im Ruhrgebiet sind die Milieus der neuen Mittelklasse jedoch – das kann man den Zahlen der SINUS-Milieu-Studie entnehmen – nicht überdurchschnittlich, sondern ‚nur‘ durchschnittlich vertreten. Andererseits sagen die Zahlen, dass die Milieus der prekären Klasse im Ruhrgebiet überdurchschnittlich groß sind. Insofern ist das Ruhrgebiet tatsächlich keine prototypische Metropolregion. Die neue Mittelklasse ist zweifellos vorhanden und sie ist auch wirksam, sie hat ihre Stadtviertel, ihre Kultur- und Konsummöglichkeiten, aber sie ist im Ruhrgebiet offenbar nicht so prägend wie etwa in der Rheinschiene Düsseldorf/Köln/Bonn, um einmal in NRW zu bleiben.

„Der soziale Aufstieg der einen läuft parallel mit dem sozialen Abstieg der anderen“

Wie sieht es mit den Töchtern und Söhnen der industriellen Arbeiterklasse aus? Sind diese alle im sogenannten Dienstleistungsprekariat aufgegangen?

Nein, es hat seit den 1960er Jahren eine enorme Bildungsexpansion stattgefunden. Auch aus der Arbeiterschaft ist über die Generationen hinweg eine größere Kohorte ‚sozial aufgestiegen‘, man hat Abitur gemacht, studiert, das Phänomen des ‚Bildungsaufsteigers‘. Das gilt mittlerweile gerade im Ruhrgebiet auch für eine größere Gruppevon Kindern aus der migrantischen Arbeiterschaft. Aber der soziale Aufstieg ist nur die eine Möglichkeit. Es ist für die sozialstrukturelle Entwicklung der letzten Jahrzehnte typisch, dass der soziale Aufstieg der einen parallel läuft mit dem sozialen Abstieg der anderen. Es gibt eben auch die konträren Fälle des Abstiegs von der alten Mittelklassein das neue Dienstleistungsproletariat oder in die Arbeitslosigkeit. Das ist ein allgemeines Phänomen der westlichen Länder, etwa auch im Rust Belt der USA.

Sie sprechen von einem polarisierten Postindustrialismus zwischen einer Wissensorientierung, wie in der neuen Mittelklasse, und einer prekarisierten Klasse ohne kulturellen Status. Was bedeutet das im Detail?

Im industriellen Sektor waren in Westdeutschland einmal 50 Prozent der Erwerbstätigen beschäftigt, heute sind es kaum mehr als 20 Prozent. Das bedeutet: Über 75 Prozent arbeiten in den Dienstleistungen, im tertiären Sektor. Das ist der Prozess der Postindustrialisierung. Aber der tertiäre Sektor setzt sich aus zwei konträren Segmenten zusammen: den Hochqualifizierten und den Niedrigqualifizierten, also der Wissensökonomie und den sogenannten einfachen Dienstleistungen. Diese Polarisierung prägt die gegenwärtige Arbeitswelt: die soziale Anerkennung ist hier hoch, dort niedrig, auch die individuellen Entfaltungsmöglichkeiten sind konträr, in der Regel auch die Einkommensmöglichkeiten.

„Polarisierung zwischen Hoch- und Niedrigqualifizierten prägt die gegenwärtige Arbeitswelt“

Spe sprechen auch von kulturellen Unterschieden. Sind das Bourdieus „feine Unterschiede“ zwischen Bio-Rotwein- und Pils-Konsum?

Die sozialen Gruppen unterscheiden sich nicht nur in ihrem Einkommen, sondern in ihrem gesamten Lebensstil, also auf kultureller Ebene im weitesten Sinne, das ist zentral. Den alten homogenen Mittelschichts-Lebensstil – das Modell Kleinfamilie mit Jahresurlaub und Mittelklasseauto – gibt es heute nur noch für ein bestimmtes Milieu. Die neue Mittelklasse hat ihre eigene Alltagskultur entwickelt: gesunde Ernährung, exotische Reiseziele, lebenslanges Lernen, individuelle Alltagsästhetik. Zwischen den Klassen herrschen da neue ‚feine Unterschiede‘, es gibt auch symbolische Auseinandersetzungen um Deutungshoheit.

Nicht alle Hochschulabsolvent*innen im Ruhrgebiet sind zugezogen, einige entstammen, wie Sie argumentieren, der industriellen Arbeiterklasse. Birgt das „Generationskonflikte“, also einen starken Wandel von Werten und Lebensvorstellungen, wie sie etwa Didier Eribon beschreibt?

Didier Eribon hat mit „Rückkehr nach Reims“ ein wichtiges Buch geschrieben, das vielen schlagartig die Existenz von Klassendifferenzen gerade auf der kulturellen Ebene deutlich gemacht hat. Das Buch bildet eine extreme Konstellation ab, in der der soziale Aufstieg der Jungen mit einer kompletten Entfremdung vom Herkunftsmilieu verbunden ist. Dies ist ein mögliches Szenario. Es gibt auch Alternativszenarien: so das klassische Mittelschichtsideal – das es ja auch in der Arbeiterschaft gegeben hat – hinsichtlich der Kinder, die „es einmal besser haben sollen“. In dem interessanten Buch von Julia Reuter „Vom Arbeiterkind zur Professur“ etwa geht es auch um extreme Fälle, aber häufig wird deutlich, dass im Rahmen der Möglichkeiten der Bildungsaufstieg positiv begleitet wurde. Manchmal machen dann die Kinder die Bildungsbiografien wahr, die den Eltern verwehrt waren.

Vielleicht kann ich Ihnen eine vorsichtige Prognose entlocken. Droht deindustrialisierten Regionen wie dem Ruhrgebiet eine düstere Abstiegsgesellschaft oder lässt sich eher auf eine Entprekarisierung hoffen?

Meine Antwort bewegt sich genau dazwischen: ich würde vermuten, dass sich das Nebeneinander einer neuenMittelklasse und einer neuen prekären Klasse bei gleichzeitig schrumpfender traditioneller Mitteklasse fortsetzen wird. Das gilt nicht nur für das Ruhrgebiet. Und das enthält einigen sozialen, kulturellen und politischen Sprengstoff.

Interview: Benjamin Trilling

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