Manchmal genügt die Wahrheit nicht. Papst Franziskus hielt beim Anti-Missbrauchsgipfel im Vatikan fest: Kindesmissbrauch sei ein gesellschaftliches und kulturenübergreifendes Problem, finde statt im Familienkreis, in Vereinen und Schulen. Das ist wahr. Aber es war nicht genug aus dem Mund des Papstes. 3677 Missbrauchsfälle durch katholische Geistliche nennt die Studie der Deutschen Bischofskonferenz, begangen größtenteils an männlichen Kindern und Jugendlichen. Weltweit erschüttern ähnliche Befunde die Kirche. Sexuelle Gewalt scheint der Kirche auf irgendeine Weise eingeschrieben.
Die Kirche hat sich nicht dadurch hervorgetan, mit Ermittlungsbehörden zu kooperieren, Täter zu benennen und Opferschutz voranzubringen. Sie hat im Gegenteil über Jahrzehnte beschwichtigt und vereitelt – ein Vorwurf übrigens, der auch die evangelische Kirche und ihren Umgang mit Missbrauchsfällen in den eigenen Reihen trifft. Die Erwartungen an den Vatikangipfel waren darum hoch. Dazu zählten ein kirchliches Schuldeingeständnis, die vorbehaltlose Öffnung interner Akten für staatliche Ermittlungsbehörden und die Hinterfragung klerikaler Berufsanforderungen und der kirchlichen Geschlechter- und Sexualmoral. Stattdessen verwies der Papst also auf sexuelle Gewalt in der Gesellschaft, als habe er die Dimensionen des Skandals nicht erfasst.
Der Papst nutzte den Verweis auch, um die moralische Fallhöhe der Kirche zu betonen: Sexuelle Gewalt sei besonders scharf zu verurteilen, wenn sie durch Geistliche geschehe. Aber diese moralische Selbsterhöhung der Kirche kann wie Hohn wirken, denn sie stellt die Tragik der gefallenen Institution Kirche in den Mittelpunkt – nicht das Leid der Opfer. Theologisch mag es auch plausibel sein, wenn der Papst „das Böse“ verantwortlich für die Verbrechen macht. Den Opfern ist aber damit nicht geholfen. Ihnen wurde kein Leid durch eine umstrittene spirituelle Entität angetan, sondern sie sind in dieser Welt Opfer von Straftätern geworden. Für konkrete und tiefgreifende Maßnahmen gegen die Missstände sprach der Papst sich nicht aus. Die Erwartungen an den Gipfel wurden enttäuscht.
Und heute? Es gibt Schritte zu einem besseren Kinderschutz im Vatikan – wo Kinder allerdings selten zu Gast sind. Katholische Geistliche sind nun verpflichtet, sexuellen Missbrauch zu melden – allerdings bei kirchlichen Behörden, nicht bei staatlichen. Zaghafte Maßnahmen, angesichts derer die Kritik nicht verstummen kann.
Im Monatsthema PAPST FRANZISKA diskutieren wir, wie die Kirche angemessen mit ihrer Schuld, mit Prävention und Opferschutz umgehen kann, was der strafrechtlichen Aufklärung im Weg steht und wie Gleichberechtigung und Geschlechterdiversität in der Kirche zu wirken beginnen. Unausweichlich scheint, dass die Kirche sich radikal verändern muss. Vielleicht erleben wir nun den Beginn dieser Veränderung.
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