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Nein zum Referendum am 16.4.
Illustration: Maxi Braun

Verurteilt, frei zu sein

30. März 2017

Nicht labern, wählen! – THEMA 04/17 Zukunft Jetzt

Du bist wütend, oh ja. Wenn du am Morgen aus deinen giftigen Träumen erwachst, bebend, schwitzig und rot, schreit jede deiner Körperzellen nach „Mehr Wut! Mehr!“ Dein Stuhlgang ist Dir nicht braun genug und schon gar nicht hinreichend mächtig für eine Person deines Kalibers. Ausstoßung als aggressiver Akt, davon hat auch schon Sigmund Freud gesprochen. In Deutschland gibt es selbst für deinen Scheiß eine Partei. Die 2004 gegründete rechtspopulistische Wählervereinigung „Bürger in Wut“ ist eine davon. Das hält doch unsere Gesellschaft zusammen: Jedem Idioten das Gefühl geben, unersetzlich zu sein. Ihm eine Wahl zu lassen.

Wenn wir schon bei der Ausscheidung von Körperinhalten sind: Ich hätte beinahe keine Wahl gehabt, denn fast hätte es mich nicht gegeben. 1. Mai 1977: Mein Vater, ein anatolischer Bursche mit einem damals schon ansehnlichen Schnurrbart, nimmt an der Demonstration zum Tag der Arbeit auf dem Istanbuler Taksim-Platz teil. Das Datum ist als „Blutiger 1. Mai“ in die Geschichte eingegangen: Auf die 500.000 Menschen, die sich aus allen Provinzen des Landes zu der Kundgebung drängten, wurde zunächst aus der Menge und dann aus einem umliegenden Hotel und dem Gebäude der Wasserbehörde mit automatischen Waffen geschossen. Verglichen mit dem, was darauf folgte, war die Loveparade von 2010 ein Kuschelfest.

In seinen flotten Schlaghosen kämpfte sich mein Erzeuger auf dem Zukunftspfad, der zu meiner Geburt führen würde, durch die Massen, Panik, Schreie, Tote, duckte sich vor den Militärpanzern, die in den Pulk fuhren, um – ja, was eigentlich? Letztlich blieben die väterlichen Hodenkanälchen drei Tagen Prügel im Gefängnis zum Trotz – ja, für was eigentlich? – verschont. Kein Paar an schweren Militärstiefeln stampfte auf meinem damals noch mikroskopischen, labbrigen Dasein herum. Namen wie der „Blutige 1. Mai“ klingen nach unabwendbarem Schicksal, historisch notwendig. Als hätte es diesen Tag gegeben, um das zu werden, was er war. Ist natürlich Bullshit. Das war ein fucking 1. Mai und manche Leute haben sich entschieden, friedlich demonstrierende Leute abzuknallen.

Ein nächster nicht-schicksalhafter Schicksalstag der Türkei ist der 16. April: Das Volk wird über eine Verfassungsänderung abstimmen und Erdoğan wird dann, wenn es gut für ihn läuft, mit seinem schmierigen Scheitel nicht mehr nur in den 1.000 Zimmern seines illegal gebauten Palasts Sultan spielen, sondern so ganz offiziell. Nicht, dass ich großer Fan der aktuellen türkischen Verfassung bin: Militärgerichtsbarkeit und so einen Blödsinn, mag ich nicht. Würde ich Spermien in mir tragen, würden die schon bei dem Wort wild zucken. Transzendentes, spermienübergreifendes, familiäres Post-Trauma.

Aber manchmal muss man, um ein größeres Übel abzuwenden, ein anderes in Kauf nehmen. „Trump ist eine körperliche Bedrohung für die Menschheit, Hillary wenigstens nur ein Stück Scheiße“, antwortet etwa eine junge Amerikanerin auf die Frage eines Reporters zu Hochzeiten des vergangenen amerikanischen Wahlkampfs. Wenn's also schief läuft, muss man in der Türkei sowieso bald nicht mehr wählen. Also kann man auch noch wählen gehen, weil es schön ist, eine Wahl zu haben.

Aber es gibt Leute, die sagen: Jaja, Demokratie ist nett und Fortschritt und so, aber so eine Wahl und Parteienpolitik, das ist purer Idealismus, das ist viel zu gegenstandslos, die Konsequenzen nicht greifbar, es ändert sich sowieso nicht, man muss konkreter denken, konkreter handeln, erst mal vor der eigenen Tür kehren, blabla. Was nützt es, wenn ich vor meiner eigenen Haustüre kehre, und der von nebenan mir seinen Müll vor der Bude auftürmt? Kehr du mal ruhig vor deiner Türe. Hauptsache, du hast dann einen sauberen Vorgarten, stapfst dann aber dafür ein paar Meter weiter gleich in den nächsten Sauhaufen. Du kannst natürlich dein Leben lang hoffen, dass jemand deinen sauberen Vorgarten bemerkt und es dir dankend gleichtut. Aber mal ehrlich, wen interessiert schon dein scheiß sauberer Vorgarten?

Oder du gehst gleich auf's Ganze. Stößt die totale Werterevolution an. Falls die Leute gerade Lust auf dich haben, was wahrscheinlich nicht der Fall ist, weil du beim Reden spuckst. Wenn du aber wirklich so rational und konkret bist, wie du meinst, dann gehst du es ganz utilitaristisch und kalkuliert an und sorgst am 14. Mai und am 24. September dieses Jahres mit einem Zettel, den du ankreuzt, für eine gesellschaftliche Schadensminimierung.

Falls alles nichts für dich ist: Solltest du dann demnächst im Fernsehen junge Männer sehen, die nach Afghanistan abgeschoben werden, obwohl sie da wahrscheinlich verrecken, erinnere dich: Du hast Dich nicht dagegen entschieden. Das ist voll konkret und voll real. Und um diesem Text die fehlende existenzialistisch, pseudo-intellektuelle Pointe zu geben: „Der Mensch ist verurteilt, frei zu sein", sagt Sartre. Und daher sei er ebenso dazu verurteilt, Entscheidungen zu treffen. Und wie schön, dass wir noch in einer Gesellschaft ohne Schlagstock im Nacken leben, wo wir diesen Zwang zu einem Genuss machen können.

PS: Liebe Leser*innen, der 16. April ist übrigens mein Geburtstag. Sie können sich vorstellen, was ich mir wünsche.


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