Es ist kurz vor acht, als Harald Welzer eintrifft. Mit einer Abendbrotstulle im Mund quetscht er sich an den Menschen vorbei, die auf den Einlass warten. Als sich die Türen öffnen, drängen alle gleichzeitig in den Saal. Die Mitarbeiterinnen des Ringlokschuppens bitten höflich um die Karten und haben Mühe bei der Öffnung der zweiten Flügeltür. Sehr viele sind gekommen, um den Sozialpsychologen und Publizisten für eine offene Gesellschaft plädieren zu hören. Geduldig oder rücksichtsvoll sind sie selber nicht.
Gerd Herholz, Leiter des LiteraturBüro Ruhr, hält die Vorstellung des Gastes kurz und bündig. Welzer passt nicht nur aufgrund seines aktuellen Buches „Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft“ gut in die LiteraturBüro Ruhr-Reihe „Über leben! Von der Hoffnung auf Zukunft“, die der Anlass der Lesung ist. Er ist außerdem Mitbegründer der Plattform „Initiative offene Gesellschaft“ und der politischen Zeitschrift „futurzwei“. Mit beiden kämpft er um das Überleben der Demokratie, die seiner Meinung nach in Gefahr ist.
Die Demokratie und unser Verständnis davon werden angegriffen, in einem Maße, wie wir es uns nach fast 70 Jahren Frieden nicht haben vorstellen können. Dafür braucht es keinen Putsch oder die „Rückkehr der Wahnsinnigen“, wie Welzer Erdogan oder Trump bezeichnet. Gesellschaftlicher Wandel vollzieht sich schleichend. Der Referenzrahmen, der uns bei der Wahrnehmung dieses Wandels als Orientierung dient, verschiebt sich. Diesen Vorgang beschreibt der ursprünglich aus der Umweltforschung stammende Begriff „shifting baselines“.
Welzer verdeutlicht dies anhand eines Beispiels: Kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wären Diskriminierung, Ausschluss, Enteignung, Deportation und Ermordung der deutschen Juden und Jüdinnen undenkbar gewesen. Bereits 1941 hatte sich das ganze System so verändert, dass diese Verbrechen nicht nur geduldet, sondern von einem Großteil der Bevölkerung auch als richtig erachtet wurden. Die Verhältnisse und deren Wahrnehmung hatten sich mit dramatischen Folgen geändert.
Als shifting baseline kann auch der Übergang von der „Willkommenskultur“ im Sommer 2015 hin zu der Stimmung im Januar 2016 charakterisiert werden. Die Ursachen dafür sieht Welzer nicht in einem großen Meinungsumschwung innerhalb der Bevölkerung, sie lägen in der politischen und medialen Kommunikation. „2015 war der feuchte Traum eines jeden Demokratieforschers: Eine Krise taucht auf, tausende Menschen übernehmen Verantwortung und helfen. Aber während die Ehrenamtlichen sich noch verausgaben, vermittelt ihnen die Politik, dass die Stimmung kippt“, fasst Welzer zusammen.
Beschwiegene statt schweigende Mehrheit
Seitdem ist die politische und publizistische Republik nicht mehr mit der Alltagsrealität der Bevölkerung identisch. Monatelang dominierte die „Flüchtlingskrise“ die Medien, selbst als kaum noch Geflüchtete nach Deutschland amen. VertreterInnen rechter Parteien saßen in jeder Talkshow, ihre Entgleisungen bestimmten die Nachrichten. Parallel orientierten sich die Parteien bis in den Landtags- und Bundestagswahlkampf 2017 hinein an rechten Themen, es ging ausschließlich um Migration und Sicherheit. Sozialer Wohnungsbau, soziale Gerechtigkeit, ökologische Probleme, wachsende Armut, Bildung, Arbeitsrecht etc. – Fehlanzeige. „Und was macht ein gewisser bayerischer Ministerpräsident? Bekämpft rechte Politik, in dem er sie imitiert. Das ist doch Wahnsinn.“
Die überragende Mehrheit hat keine rechte Partei gewählt, um diese gut 80 Prozent Prozent kümmert sich die Politik aber nicht. Es ist eine beschwiegene, keine schweigende Mehrheit. Als Ergebnis sitzt die AfD, deren direkte Nennung Welzer konsequent und bewusst verweigert, heute in nahezu jedem Land- und im Bundestag. Deutschland ist damit im Europavergleich noch glimpflich davongekommen. In Österreich oder Tschechien stellen streng konservative bis rechte Parteien die knappe Mehrheit.
Rechtsaußen-Parteien gab es seit 1945 immer wieder, genau wie spektakuläre Regierungswechsel. Neu ist laut Welzer die radikale Kurswende. Regierungen in Polen oder Ungarn nutzen die Gunst der Stunde und eine einzige Legislaturperiode, um Tabula Rasa zu machen und das demokratische System umzubauen. Erstmals in der Geschichte gibt es weltweit keinen Zuwachs, sondern einen Rückgang an demokratischen Staaten. Reagiert wird darauf zunächst mit Irritation, danach könnte eine Anpassung an die neuen Gegebenheiten folgen, die dann zur Normalität würden.
Klingt alles ziemlich niederschmetternd? Resignation kommt für Welzer trotzdem nicht in Frage. Er schreibt unermüdlich Bücher und initiierte 2015 eine Diskussionsreihe unter dem Motto „Welches Land wollen wir sein?“. 500 Veranstaltungen hätten ihm gezeigt, dass die demokratische Kultur zumindest im analogen Raum noch intakt sei. Entscheiden ist für ihn, ähnlich wie bei der proeuropäischen Bewegung „Pulse of Europe“, für etwas zu kämpfen, statt gegen alles zu sein und keinerlei Vision für die Zukunft zu haben.
Was tun also? So lautet in Variationen auch die meistgestellte Frage aus dem Publikum. Gegen das lähmende Gefühl, nichts zu erreichen.Gegen den Pegida-Ableger, der immer noch jeden Montag durch Duisburg marschiert. Gegen die Gaulands, Szydłos, Orbans, Straches, Erdogans und Trumps dieser Welt. Welzer antwortet bestimmt: „Wir leben in der sichersten Zeit seit Menschengedenken, Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt. Wir haben so große Handlungsspielräume und daher kein Recht auf Pessimismus“.
Auf einige, die gekommen sind, mag das wie eine Klatsche wirken von einem, der gut reden hat. Seiner Privilegien ist sich Welzer durchaus bewusst. Diese gelten aber mehr oder minder für die meisten Menschen hierzulande. Bis auf diejenigen, die von existentieller Armut bedroht sind. Jammerei, auch von den Engagierten und ehrenamtlich Tätigen, lässt Welzer nicht gelten.
Ein paar konkrete Handlungsempfehlungen hat er gegen Ende dennoch. „Sammelt Argumente, schmiedet auch mal paradoxe Bündnisse, engagiert euch wie und wo auch immer für die Demokratie. Das ist ein signifikanter Moment der Geschichte, wir müssen handeln“. Ein letzter Seufzer ertönt aus dem Publikum, das sei aber schwer. Welzer, ebenfalls sichtlich erschöpft von einem langen Tag, kontert: „Es ist erheblich leichter für die Demokratie zu kämpfen, solange sie noch existiert. Danach wird es noch viel schwieriger werden.“
Informationen zu der „Initiative offene Gesellschaft“: www.die-offene-gesellschaft.de
Weitere Termine der Reihe „Über leben“ finden Sie hier: www.ueber-leben.net
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