trailer: Herr Hillnhütter, warum erforschen Sie das Zufußgehen?
Helge Hillnhütter: Fußgänger haben keine Karosserie und auch keine Sitzheizung. Wenn wir gehen, tun wir das draußen, in Straßen, Parks, auf Plätzen und anderswo. Zu Fuß sind wir diesen Umgebungen direkt ausgesetzt und der Stadtraum beeinflusst, ob das Gehen attraktiv ist oder nicht. Diese Stadträume gestalten wir als Stadtplaner, Architekten, Ingenieure, viele andere sind involviert. Ich finde es interessant, wie wir als Fußgänger Stadträume wahrnehmen und wie diese die Wahrnehmung des Gehens beeinflussen – oder ob man überhaupt zu Fuß gehen kann. Wenn wir nicht verstehen, unter welchen Bedingungen das Zufußgehen attraktiv ist, wird dieses Verkehrsmittel unattraktiv, ohne dass wir es merken.
Was genau erforschen Sie am Fußverkehr?
Ich forsche unter anderem an dem Zusammenhang zwischen Fußverkehr und öffentlichem Verkehr. Wenn man den Bus nimmt,muss man natürlich zu Fuß gehen, der hält ja nicht vorm Haus. In Städten gehen über neunzig Prozent zu Fuß zu Haltestellen und Bahnhöfen. Wenn man mit dem Bus oder der Bahn fährt, sind wir nicht nur Passagiere, sondern circa fünfzig Prozent der Reisezeit Fußgänger:innen. Interessant ist, dass kaum jemand darüber spricht, obwohl der Fußverkehr so wichtig ist für den öffentlichen Verkehr. Aktuell betreue ich PhD-Projekte, die sich damit beschäftigen, wie man Stadträume schnell und einfach umgestalten kann. Mit temporären und kostengünstigen Maßnahmen kann man den Straßenraum für Fußgänger sehr schnell umbauen. Solche schnellen Umgestaltungen können den Straßenraum auch attraktiver und sicherer machen als Aufenthaltsraum, zum Beispiel in einem Wohngebiet. Weil solche Umgestaltungen nur temporär sind, entsteht die Möglichkeit den neuen Straßenraum zu testen. Anwohner können so ganz praktisch dazu beitragen, die Straße vor dem Haus zu gestalten. Solche temporären Projekte sind meistens ein Startpunkt für permanenten Umbau zu einem Stadtraum, der für Menschen funktioniert, und nicht nur für Autos. Wir untersuchen, wie man solche Methoden in regulären Stadtplanungsprozessen anwenden kann. In anderen Projekten untersuchen wir, wie Stadträume soziale Kontakte zwischen Menschen stimulieren können. Wir wollen besser verstehen, wie Straßenräume auch als soziale Begegnungsräume und Aufenthaltsräume gut funktionieren können. Zufußgehen fördert nicht nur die körperliche, sondern auch die mentale Gesundheit. Ein gutes soziales Netzwerk, zum Beispiel in der näheren Umgebung der Wohnung, hat einen nachgewiesenen positiven Effekt auf unsere mentale Gesundheit. Wir wollen verstehen, wie man Stadträume entwickeln kann, in denen alle gesund und gut leben können.
„Deutschland steht Deutschland im europäischen Vergleich nicht so gut da“
Werden diese Punkte in Deutschland berücksichtigt?
Mein Eindruck, den ich mit vielen anderen teile, ist, dass Deutschland im europäischen Vergleich noch nicht so gut dasteht. Die letzte nationale Verkehrsuntersuchung „Mobilität in Deutschland“ zeigt zwar, dass das Zufußgehen das am zweitmeisten genutzte Verkehrsmittel ist, bleibt aber ansonsten unbeachtet in dem Bericht zur Untersuchung. Das Interesse und Bewusstsein für die Möglichkeiten und positiven Effekte durch mehr Fußverkehr bleiben oft unterentwickelt. Aber es wäre unfair das zu verallgemeinern. Ich sehe ein deutlich gestiegenes Interesse am Fußverkehr, zum Beispiel in Bremen, Berlin, Hamburg, München, aber auch in vielen kleineren deutschen Städten. Was es auch seit zwei Jahren gibt, ist der nationale Fußverkehrskongress, der dieses Jahr im April in Bremen stattfindet. Wir untersuchen gerade, wie Städte ihre Fußgängerstrategien umsetzen. In Deutschland gibt es zwar viele Städte, die Strategien haben. Mein Eindruck ist, dass ein effektives Umzusetzen aber schwieriger ist. Wir haben hier schon viele interessante Ansätze in den Niederlanden, Frankreich und der Schweiz gefunden. Wir versuchen durch das Forschungsprojekt die Möglichkeiten der Umsetzung von Fußverkehrsstrategien aufzuarbeiten und die Erfahrungen in vielen Städten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen.
Warum wird der Fußverkehr von der Politik vernachlässigt?
Wenn so viele Arbeitsplätze in der Autoindustrie liegen, dann ist es sicher kompliziert, als Verkehrsminister zu sagen, wir müssen alle weniger Auto fahren. Aber um die Klimaziele zu erreichen, führt kein Weg daran vorbei, darin sind sich viele Forscher einig. Zu Fuß gehen kann man ohne Hilfsmittel und damit hat der Fußverkehr keinen Wert für einen Markt oder eine Industrie. Eine Mobilität, die für fast jeden gratis bereitsteht, ist aber aus gesellschaftlicher Sicht auch praktisch. Fußverkehr braucht wenig Ressourcen, ist klima- und umweltfreundlich, spart Kosten im Gesundheitswesen, und benötigt vergleichsweise kostengünstige Infrastruktur. Der Fußverkehr ist auch wichtig, um attraktive Stadtzentren zu entwickeln. Die Annahme, dass der Handel in der Stadt zurückgeht, wenn der Zugang mit dem Auto erschwert wird, hält sich zwar immer noch hartnäckig, die Erfahrungen zeigen aber, dass mehr Fußgänger den Umsatz und Eigentumspreise steigen lassen. Wenn wir zu Fuß gehen, sehen wir mehr und besuchen mehr Geschäfte und halten uns länger in einem Stadtzentrum auf. Wenn man mit dem Auto direkt vor ein Geschäft fährt, fällt dieses Potenzial weg. Die Forschung belegt und erklärt solche Effekte seit vielen Jahren gut.
„Der Fußverkehr ist wichtig, um attraktive Stadtzentren zu entwickeln“
Gibt es weitere Gründe, für das Zufußgehen gute Bedingungen zu schaffen?
Gehen kann fast jeder. Im Gegensatz dazu haben viele Menschen keinen Führerschein, und noch weniger ein Auto zur Verfügung. Häufig hat ca. die Hälfte der Bevölkerung nicht die Möglichkeit, sich eigenständig mit dem Auto zu bewegen. Statistiken lassen hier oft Kinder und Jugendliche außen vor. Haben diese keinen gleichberechtigten Anspruch auf eine selbstständige Mobilität – ohne Auto? Attraktive und sichere Alternativen zum Auto sind wichtig für eine gerechte Verteilung von Möglichkeiten mobil zu sein.
Für die kindliche Entwicklung und den sozialen Austausch im jugendlichen Alter ist es wichtig, sich frei und sicher in Straßenräumen bewegen zu können. Mehr Leben auf der Straße bietet mehr Möglichkeiten für sozialen Austausch und physische Aktivität für Kinder und Jugendliche. Wenn sich Kinder sicher allein in einem Stadtquartier bewegen können, entlastet das Eltern, die ihre Kinder weniger begleiten müssen.
Auch, wenn man älter wird, ist es irgendwann sicherer für alle anderen, wenn man nicht mehr Auto fährt. Auch das Fahrrad ist dann oft keine Option mehr, und auch die Nutzung des öffentlichen Verkehrs wird schwierig. Häufig bleibt im Alter nur noch ein Weg zu Fuß, um Nachbarn zu treffen, oder im Laden um die Ecke etwas einzukaufen. Der soziale Austausch ist wichtig für ältere Menschen. Sich so gut wie möglich selbst versorgen zu können reduziert den Bedarf für kostbare Pflege und Betreuung. Diese positiven Effekte sind von zentraler Bedeutung für eine alternde Gesellschaft wie in Deutschland. Dazu müssen Straßenräume natürlich barrierefrei gebaut werden, was im Prinzip möglich ist. Für Fußgänger attraktive Städte verlängern Möglichkeiten für ein selbständiges Leben, fördern einen gerechteren Zugang zu Mobilität, und stimulieren soziale Interaktion und Austausch im öffentlichen Raum. Gerechtigkeit und Sozialisation sind wichtige Faktoren für eine funktionierende demokratische Gesellschaft. Gute Stadt- und Mobilitätsplanung muss dafür Verantwortung übernehmen.
„Sichere Alternativen zum Auto sind wichtig für eine gerechte Verteilung von Mobilität“
Warum werden Fußgänger:innen in der Verkehrsplanung dennoch vernachlässigt?
Wir wissen alle, fahrende Autos sind gefährlich, das lernen wir schon im frühen Kindesalter. Wenn ein Auto mit 50 km/h einen Fußgänger anfährt, so ist das meistens fatal für den Fußgänger. Bei 40 km/h endet der Fußgänger mit hoher Wahrscheinlichkeit für den Rest seines Lebens im Rollstuhl. Interessant ist, dass 50 km/h immer noch weitgehend akzeptiert wird in Städten, wo sich auch viele nicht mit dem Auto bewegen. Das ist interessant, weil man genau diese Mobilitätsformen fördern will, die durch 50 km/h fahrende Autos gefährdet sind. Wenn es aber nicht sicher ist, zu Fuß zur Haltestelle oder zur Schule zu gehen, dann wird es schwierig, genau das zu fördern.Stadt- und Verkehrsplanung orientiert sich leider immer noch zu oft an dem Prinzip „die Langsamen weichen den Schnellen“. Diese Regel ist in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelt worden und passt wenig zu heutigen Problemen wie Klimawandel, Umwelt, aber auch soziale Herausforderungen. Aber warum sollten Fußgänger auf Autos Rücksicht nehmen müssen? Viele Städte haben heute schon Strategien verabschiedet, in denen dieses alte Prinzip umgekehrt wird. Erste Priorität hat der Fußgänger, dann der Radverkehr, der öffentliche Verkehr, und zum Schluss erst das Auto da, wo es notwendig ist. Das ergibt im Hinblick auf all die genannten gesellschaftlichen Herausforderungen Sinn. Bei Zusammenstößen zwischen Autos und Fußgängern spricht man oft von gefährlichem Verhalten der Fußgänger. Das ist interessant. Ist es doch das Auto was gefährlich für andere ist, nicht der Fußgänger. Gefährlich ist das Verhalten von Fußgängern nur vor dem Hintergrund von Verkehrsregeln, die auf dem veralteten Prinzip „schnell kommt erst“ basieren. Diese Regeln ändern sich aber gerade vielerorts. In vielen europäischen Städten wird eine generelle Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h diskutiert, in Brüssel ist das schon seit Januar 2021 umgesetzt. Solche Maßnahmen führen in der Regel zu einer starken Reduktion von schweren Verkehrsunfällen und den damit verbundenen gesellschaftlichen Kosten. Dieses umgekehrte Prinzip für die Mobilität in der Praxis umzusetzen ist aber nicht einfach. Im Auto sitzend, meinen wir zu oft, das Recht zu haben, schnell fahren zu dürfen, auch in der Stadt. Dass alle, die nicht mit einem Auto in der Stadt unterwegs sind, damit gefährdet werden, wird uns oft nur dann klar, wenn wir selber auf der Straße zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind. Diese unterschiedlichen Sichtweisen zwischen Autofahrern und denen, die das Auto nur selten nutzen haben wir gerade wieder in einer Studie gefunden, die wir in Berlin durchgeführt haben. In Zukunft werden sich Autofahrer in Städten daran gewöhnen müssen, dass man im Auto gefährlich für andere ist. Das heute oft empfundene Recht auf Höchstgeschwindigkeit wird in der Stadt einem erhöhten Verantwortungsbewusstsein weichen müssen. Das ist wichtig, damit sich Fußgänger und alle, die sich ohne Auto in der Stadt aufhalten, sich auch sicher und frei bewegen können.
VERKEHRSWEGE - Aktiv im Thema
bahn-fuer-alle.de | Das Bündnis aus 20 Organisationen wendet sich „für eine wirkliche Verkehrswende“ gegen die Privatisierung der Deutsche Bahn AG.
freiheitsfonds.de | Die Initiative Freiheitsfonds sammelt Spenden, um Menschen zu befreien, die im Gefängnis sitzen, weil sie ohne Ticket den ÖPNV genutzt haben.
dw.com/de/nahverkehr-in-europa-null-euro-tickets-auf-dem-vormarsch/a-62021450 | DW-Überblick über europäische Städte, in denen der öffentliche Nahverkehr bereits kostenlos ist.
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