Konzert Nummer 2.954 – welcher andere Musiker führt über seine eigenen Gigs so intensiv Buch wie der Engländer Frank Turner? Im Februar nächsten Jahres will Turner im geschichtsträchtigen und längst ausverkauften Alexandra Palace („Ally Pally“) in London sein Konzert Nummer 3.000 feiern. Um bis dahin auf diese Zahl zu kommen, absolviert er aktuell noch eine Tour, die ihn quer durch Europa und nach Vietnam, Australien, Japan und Mexiko führt. Der Startschuss für diese Tour fällt in Oberhausen, wo er mit seiner Band zeigt, wie man in der Turbinenhalle die Turbinen so richtig anwirft.
Zwei Opener hat Turner mitgebracht: Den Beginn macht die Hamburgerin Shitney Bears. Mit ihrer Band hat sie erst vor kurzem den fluffigen Indie-Rocksong „Maya Hawke“ als Vorboten ihres dritten Albums veröffentlicht (unbedingt mal reinhören!). In der Turbinenhalle steht sie solo auf der Bühne und kehrt eher ihre ruhige Singer-Songwriter-Seite nach außen. Da fehlt es an Antrieb, an Energie und an Höhepunkten, um das Publikum auf Betriebstemperatur zu bringen.
Ganz anders der zweite Opener: Skinny Lister haben vom ersten Ton an die Halle im Griff. Ihr mitreißender Shanty-Folk-Punk erfindet das Genre nicht neu, ist aber tanz- und mitgrölbar. Neben Schlagzeug und Gitarre besticht der Sound durch Kontrabass und Melodeon. Zum Repertoire gehört zum Beispiel das Traditional „John Kanaka“, aber auch die eigenen Songs sind eng traditionellem Songwriting verbunden. Die raue See, Whisky und Rum sind immer wiederkehrende Motive. Nicht ohne Grund zählt ein wuchtiger Tonkrug zum festen Bühnenoutfit der Sängerin Lorna Thomas. Skinny Lister verwandeln die Turbinenhalle zeitweilig in einen bierseligen Pub.
Zwei wichtige Regeln
Gut aufgewärmt ist das Publikum nun bereit für Frank Turner & The Sleeping Souls. Mit „No Thank You for the Music“ gehen sie gleich in die Vollen, eine lautstarke Kampfansage an kulturellen Mainstream, die mit der Zeile „I don‘t want to be in your gang“ (übers.: „Ich will nicht in eurer Gang sein“) einen wütenden Schlachtruf liefert, in den zweitausend Kehlen begeistert einstimmen. Mit „Girl From The Record Shop“ folgt direkt die Single nach, mit der Turner seine Funktion als Botschafter des diesjährigen „Record Store Day“ untermauert hat – eine Liebeserklärung an Plattenläden mit musikalischen Anleihen aus dem Rock ‘n‘ Roll der 1960er Jahre. Der weitaus größte Teil der Anwesenden dürfte nicht zum ersten Mal auf einem Frank Turner-Konzert sein. Dennoch stellt Turner sicherheitshalber klar, dass es zwei wichtige Regeln auf seinen Konzerten gibt: Mit „Rule Number one: Don‘t be a dickhead!“ (in etwa: „Regel Nummer eins: Sei kein Arschloch!“) beschwört der Musiker das achtsame Miteinander – auch und gerade im Moshpit. Wenn jemand fällt, wird ihm aufgeholfen, wenn man jemanden sieht, dem es nicht gut geht, kümmert man sich um ihn. „Rule Number two: If you know the words of a song we are playing, sing with us!“ („Regel Nummer zwei: Wenn ihr den Text eines Songs kennt, den wir spielen, singt mit uns!“) Das lassen sich viele nicht zweimal sagen bei dem nun folgenden wilden Ritt durch das langjährige (Solo-)Schaffen Turners. Wie gewohnt setzt Turner eine unglaubliche Energie frei, tobt wie ein Berserker über die Bühne. Seine Sleeping Souls, die ihn (bis auf Drummer Callum Green) in dieser Besetzung schon seit 2006 regelmäßig begleiten, glänzen durch ansteckende Spielfreude, bieten musikalisch und optisch eine stimmige Einheit. Liegen die Wurzeln Turners Anfang der 2000er Jahre mit der Band Million Dead noch im (Post-)Hardcore-Punk, flirtete er zwischenzeitig mit dem Folk und lässt sich mittlerweile in keinerlei Genre mehr pressen.
Walzerschritte im ruhigen Mittelteil
Zwischendurch darf die Band eine kurze Pause einlegen: Frank Turner stimmt mit „Sailor‘s Boots“ eine noch nie live gespielte B-Seite an. Auch „Be More Kind“ und „The Ballad of Me and My Friends” spielt er solo. Im Lauf von „I Knew Prufrock Before He Got Famous“ stößt die Band wieder zu ihm – und die zwischenzeitige Besinnlichkeit hat ein Ende. Bei „Do One“ singt Turner die erste Strophe auf Deutsch. Schließlich hat Freund und Donots-Sänger Ingo Knollmann für diesen Song eine stimmige Übersetzung geliefert. Während der Zugabe erklärt Turner, dass selbstverständlich auch alle, die aus welchen Gründen auch immer nicht springen können oder wollen, herzlich willkommen sind – aber bei „Polaroid Picture“ scheinen auch die zu hüpfen, die es am nächsten Morgen bereuen werden. Im ruhigen Mittelteil des abschließenden „Four Simple Words“ wagen mehrere Paare im „Circle Pit“ (einem Moshpit in Kreisbewegung) Walzerschritte, bevor es wieder zur Sache geht. Frank Turner stürzt sich ebenfalls ins Getümmel, wird auf Händen durch die Halle gereicht und singt dabei weiter. Nach rund 100 schweißtreibenden Minuten ist das Konzert zu Ende und hinterlässt viele sichtlich erschöpfte, aber glückliche Fans. Einzig, wer den Parkplatz der Turbinenhalle genutzt hat, kann eindrucksvoll erleben, dass das Motto „Don‘t be a Dickhead“ für manche nicht über die Konzertdauer hinaus von Bedeutung ist: Hier wird gedrängelt und gehupt, als wenn man so schneller wegkäme. Die Ausfahrtsituation mit Rückstau an der nächsten Ampel ist eine Katastrophe. Für nicht wenige dauert es fast eine Stunde, bis sie das Gelände verlassen haben.
Die nächste Gelegenheit, Frank Turner im Dunstkreis des Reviers zu erleben, bietet sich Ende Juni 2025 in Münster: Einen Tag nach dem Oberhausener Konzert hat das Festival Vainstream ihn als einen der Acts im kommenden Jahr bestätigt.
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