Personenkommentar:
Dr. Cornelia Strunz (44) ist Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie im Desert Flower Center am Krankenhaus Waldfriede in Berlin und Generalsekretärin der Desert Flower Foundation, Deutschland.
trailer: Frau Dr. Strunz, was genau machen Sie im Desert Flower Center?
Dr. Cornelia Strunz: Wir haben am 11. September 2013 im Krankenhaus Waldfriede in Berlin-Zehlendorf das erste Desert Flower Center eröffnet. Hier bieten wir Frauen, die nach einer Genitalverstümmelung leiden, ganzheitliche medizinische Versorgung an. Dazu gehören nicht nur operative Eingriffe und Wiederherstellungsoperationen, sondern auch psychische und physiotherapeutische Hilfe und eine Selbsthilfegruppe.
Warum wird eine Einrichtung dieser Art in Deutschland gegründet?
Dr. Roland Scherer ist einerseits Chefarzt der Abteilung für Darm- und Beckenbodenchirurgie und auch ärztlicher Leiter des Desert Flower Center. Er ist spezialisiert auf rektovaginale Fisteln, die unter anderem auch bei Frauen nach Genitalverstümmelungen auftreten. Gemeinsam mit dem Vorsitzenden des Krankenhauses Waldfriede, Bernd Quoß entschied er, diesen Frauen zu helfen. Sie flogen 2009 nach Addis Abeba in Äthiopien und besuchten dort ein Krankenhaus in dem ausschließlich betroffene Frauen behandelt wurden. Man überlegte wie man helfen könne. Gemeinsam mit der Desert Flower Foundation in Wien wurde entschieden, Frauen zu helfen, die entweder in Deutschland leben, oder die für eine Behandlung nach Deutschland kommen wollen. Dr. Scherer selbst ist auf die Fisteloperationen spezialisiert. Die Wiederherstellungsoperationen führt Dr. Uwe von Fritschen durch. Er ist Chefarzt der Klinik für Plastische und Ästhetische Chirurgie im HELIOS Klinikum Emil von Behring.
Welchen Leidensweg haben die Frauen hinter sich wenn sie zu Ihnen kommen?
Personenkommentar:
Dr. Cornelia Strunz (44) ist Fachärztin für Chirurgie und Gefäßchirurgie im Desert Flower Center am Krankenhaus Waldfriede in Berlin und Generalsekretärin der Desert Flower Foundation, Deutschland.
Viele Frauen, die sich bei mir vorstellen, leben schon längere Zeit in Deutschland, aber alle kommen ursprünglich aus Afrika. Ein paar reisen aus Afrika für die Operation an und kehren danach wieder zurück in Ihr Heimatland. Viele haben eine Flucht aus ihrem Land hinter sich, sie kommen über Libyen und Italien im Schlauchboot nach Deutschland. Wenn ich mich mit den Frauen das erste Mal in der Sprechstunde unterhalte, dann erzählen sie mir ihr gesamtes Schicksal. Viele Frauen erinnern sich noch gut daran, wie sie an ihren Genitalien beschnitten wurden.
Was passiert während einer weiblichen Genitalbeschneidung?
Man muss wissen, dass die Beschneidung nicht aus religiösen Gründen durchgeführt wird, sondern aus einer Tradition heraus. Alle elf Sekunden wird weltweit ein Mädchen an den Genitalien beschnitten. Es ist eine grausame Tradition. Nur eine beschnittene Frau ist etwas wert in dieser Gesellschaft. Sie kann verheiratet werden, dafür bekommt die Familie dann eine Ziege oder ein Schaf, was sehr viel mehr wert ist als das Mädchen an sich. Das Mädchen wird gewaltsam festgehalten, eine Beschneiderin, Hebamme oder die eigene Großmutter führt die Beschneidung durch. Mit einer Rasierklinge, einer Glasscherbe oder einem anderen scharfen Gegenstand werden entweder die Vorhaut der Klitoris, die gesamte Klitoris oder auch die kleinen Schamlippen entfernt. Danach wird alles mit Akaziendornen oder mit Bindfäden zusammengenäht. Die Mädchen liegen danach tagelang mit zusammengebundenen Schenkeln damit alles verklebt und vernarbt. Teilweise wird in wohlhabenden Familien die Beschneidung der Mädchen in Krankenhäusern durchgeführt. Dann wird aber meistens sehr viel mehr weggeschnitten, da die Gegenwehr des Mädchens unter der Narkose fehlt.
Welche Folgen hat die weibliche Genitalbeschneidung für die Frauen?
Die Frauen haben nach dieser Prozedur viele gesundheitliche Probleme. Die WHO geht davon aus, dass 10 Prozent an den akuten Folgen und 25% an den langfristigen Folgen der Beschneidung sterben. Sie können schon während der Beschneidung verbluten. Die Frauen können Fisteln bekommen, inkontinent werden, können Hepatitis oder HIV entwickeln. Die psychischen Folgen sind extrem. Die Frauen fühlen sich nicht als ganzheitliche Frau und ihrer Weiblichkeit beraubt. Das sind die Gründe warum die Frauen zu uns kommen.
Was passiert mit zusammengenähten Frauen in der Hochzeitsnacht oder im Falle einer Geburt?
Indem der Mann immer wieder penetriert, reißt die Frau entweder unten auf, oder er bestellt eine professionelle Beschneiderin und lässt seine Frau wieder aufschneiden. Manche Männer machen das auch selbst. Nach dem Geschlechtsakt werden die Frauen teilweise wieder zugenäht. Steht eine Geburt bevor, wird die Frau auch entweder wieder aufgeschnitten, oder sie reißt unter der Geburt auf. Die Mutter- und Kindersterblichkeit ist extrem hoch.
Können Frauen nach der Wiederherstellung ein normales Sexualleben haben?
Im Grunde genommen schon, aber das ist bestimmt von Frau zu Frau verschieden. Bei der Operation und Rekonstruktion der Klitoris können wir das Narbengewebe abtragen. Außerdem können wir die Klitoris und die kleinen Schamlippen rekonstruieren. Wir können aber nicht versprechen, dass das Gefühl komplett zurückkommt. Auch können wir nicht versprechen, dass die Frauen durch die Operationen einen Orgasmus bekommen können.
Wenn die Frauen nach einer Operation bei ihnen wieder in ihre Heimatländer zurückkehren, bedeutet das dort für sie einen Ausschluss?
Viele Frauen reden in ihrer Community nicht über die Rückoperation, damit sie keine Schwierigkeiten bekommen. Im Februar 2015 haben wir eine Frau rückoperiert, die wenige Tage vor der Operation hier in Berlin ihren somalischen Mann geheiratet hat. Ihr war es wichtig, beschnitten in die Ehe zu gehen. Nach unserer Operation ist sie schwanger geworden und sie hat am 25.01.2016 ihr Baby im Krankenhaus Waldfriede zur Welt gebracht – ein gesundes Mädchen namens Muntaz. Die meisten Frauen, die wir hier behandeln, leben schon längere Zeit in Deutschland, und da setzt teilweise ein Umdenkprozess ein. Viele sind alleinerziehend ohne Mann und schämen sich dafür wie sie aussehen. Sie möchten gerne neue Partner kennen lernen, sich vorher aber rückoperieren lassen. Ich vermute, dass die Frauen, die nach Afrika zurückgehen, die meisten Probleme haben.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir, dass mich betroffene Frauen anrufen. Die Frauen erreichen direkt mich bei einem Anruf, da ist bewusst keine Sekretärin dazwischen geschaltet. Dann können wir in einem ersten Gespräch klären, was die betroffene Frau für Hilfe benötigt und wie wir helfen können. Weiterhin freuen wir uns über Spenden. Denn auch Frauen, die nicht versichert sind, oder keine Beihilfen bekommen, werden bei uns medizinisch versorgt. Das wird dann ausschließlich durch Spenden finanziert. Alle Kontaktdaten und auch die Spendeninformation sind auf unserer Homepage zu finden.
Aktiv im Thema
retteeinekleinewuestenblume.de | Desert Flower Foundation von Menschenrechtsaktivistin Waris Dirie
www.krankenhaus-waldfriede.de | Das Desert Flower Center bietet Frauen, die nach einer Genitalverstümmelung leiden, ganzheitliche medizinische Versorgung an
www.stop-mutilation.org | Gegen die Beschneidung von Mädchen in Europa und Afrika
www.frauenrechte.de | Terre de femmes
Lesen Sie weitere Artikel
zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
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