Klaus Wermker blickt aus seinem Wohnzimmer auf den Messeparkplatz der Grugahalle. Diese Fläche rund um den ehemaligen Güterbahnhof wurde im Mai 2018 zum Stein des Anstoßes, als ein Investor das Projekt Rüttenscheider Brücke vorstellte: Drei siebenstöckige Gebäude sollen aus dem Boden gestampft werden und Platz für um die 130 Wohnungen und Gewerbe bieten. „Von unserem Haus ausgehend ist dann ein kleiner Protest entstanden“, erzählt Wermker.
Als langjähriger Stadtentwickler bei der Stadt Essen erschien ihm das Bauvorhaben nachvollziehbar, aber: „Wir Bürger wollten bei der Planung mitreden.“ Immerhin betrifft das Projekt alle Anwohner:innen im angesagten Ausgehviertel. 25 Bäume werden verschwinden, der Fahrradweg soll verlegt werden. So initiierten sie das Bürgerforum Rüttenscheid. Rund 15 Aktive beteiligen sich in der Vorbereitungsgruppe. Beim letzten Forum in der Reformationskirche im März dieses Jahres mussten kurzerhand weitere Stühle gestellt werden. 150 Menschen kamen.
Eine Bürgerinitiative für oder gegen ein bestimmtes Vorhaben haben sie damit nicht gegründet, wie Elizabeth Rasche betont: „Wir bieten den Raum, damit sich Rüttenscheider Bürger äußern können.“ Der Minimalkonsens lautet: Partizipation und Transparenz bei allem, was die Rüttenscheider:innen betrifft. Denn vieles bleibe aus Sicht der Anwohner:innen auf der Strecke. So auch die oft beschworene Verkehrswende, die den Anteil von PKW im Straßenbild reduzieren soll.
Zwar soll der derzeitige Fuß-Radweg im Zuge der Umgestaltung der „Rü“ zur Fahrradstraße weichen, Rasche erscheint dies aber als reine Symbolpolitik: „Diese Fahrradstraße ist ohne Abbiegegebote und damit einhergehende Verminderung des Durchgangsverkehrs eine Luftblase, da sich für Radfahrer kaum etwas ändern wird an der derzeitigen Kfz-dominierten Verkehrssituation auf der Rü.“ Durchgreifende Änderung sehe das Projekt nicht vor: Das Verkehrsaufkommen bleibe, die Geschwindigkeit könne womöglich steigen. Denn die Rü werde durch die Umwandlung zur Fahrradstraße zur Vorfahrtstraße, warnt Rasche.
Dabei drängt es auch aus Sicht der Stadt Essen. Letztes Jahr verklagte die Deutsche Umwelthilfe die Kommune. Der Grund: An sechs von zehn Messstationen (darunter die Rüttenscheider Alfredstraße) lag der Ausstoß von Stickoxiden deutlich über den von der EU vorgeschriebenen Grenzwerten. Um ein Dieselfahrverbot zu umgehen, verpflichtete sich die Stadt Essen, bis 2035 einen Radverkehrsanteil von 25 Prozent zu erreichen. Aktuell liegt dieser Anteil bei sieben Prozent. Wermker ist skeptisch, ob in seiner Stadt in 15 Jahren jeder Vierte aufs Fahrrad steigt: „Sie wollen dem Auto keinen Raum nehmen. Konsequent zu Ende gedacht, wäre es aber notwendig.“ Das betreffe auch den lange Jahre verschleppten Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs, so der Stadtentwickler: „Eines der größten Hindernisse für die Entwicklung des Ruhrgebiets ist das schlechte ÖPNV-Netz.“
Beim Thema Verkehrswende gehen die Meinungen beim Bürgerforum Rüttenscheid auseinander. Um zu belastbaren Erkenntnissen zu kommen, mit welchem Verkehrsmittel etwa der Rüttenscheider Einzelhandel aufgesucht wird, müssten entsprechende Daten ermittelt werden, wie Wermker plädiert: „Keiner weiß, mit welchen Verkehrsmitteln die Leute zum Einkaufen kommen.“ Auch das würde bedeuten, die Anwohner:innen bei der Planung einzubinden. Wermker betont, dass eine Mitsprache der Bürger:innen bei Entscheidungsprozessen auch von Sachkenntnis bestimmt wird: „Demokratie braucht kluge Bürger.“
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Aktiv im Thema
www.verbraucherzentrale.de | Der Verbraucherzentrale Bundesverband informiert u.a. über den Abgasskandal.
www.elektromobilitaet.nrw | Wer sich aus CO2-Gründen von Diesel und Benziner verabschieden will, findet auf diesem Portal viel Wissenswertes.
www.bmjv.de/DE/Verbraucherportal/Verbraucherportal_node.html | Das Justizministerium will hier die Verbraucher:innen zu diversen Themen mit „Wissen wappnen“.
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