trailer: Herr Prof. Dr. Niekisch, im 19. Jahrhundert entstanden erste Zoos in Deutschland, um die Schaulust des Publikums mit exotischen Tieren zu befriedigen. Teilweise standen finanzielle Interessen dahinter. Manche waren bürgerlich, dienten auch der Wissenschaft. Was hat sich an dem Konzept seither geändert?
Manfred Niekisch: Der 1858 gegründete Frankfurter Zoo ist nach dem Zoologischen Garten Berlin der zweitälteste Deutschlands und war eine Gründung von Bürgern für Bürger. Er wurde 1915 von der Stadt übernommen, daher steht bis heute keine Profitorientierung dahinter. Wir sind gemeinnützig. Die Eintrittspreise liegen im unteren Drittel deutscher Zoos, weil unser Zoo für jeden zugänglich sein soll. Schaulust ist ein Aspekt, aber schon damals wollte der Frankfurter Zoo zu Bildung und Artenschutz beitragen. Heute beruht das Konzept auf Bildung, Erholung, Forschung und Naturschutz. Übrigens ist der Begriff „Zoo“ nicht geschützt – jeder, der eine Tiersammlung sieben Tage im Jahr der Öffentlichkeit zeigt, kann sich „Zoo“ nennen.
Zoos stehen in der Kritik von Tierschützern. Ein zentraler Vorwurf ist, dass Tiere nicht artgerecht gehalten werden.
Wir verstehen uns selbst als Tierschützer. Der Vorwurf stimmt nicht für wissenschaftlich geführte Zoos, die Mitglied im Verband der Zoologischen Gärten sind. Es gibt leider auch schlechte Zoos, die für ein schlechtes Image sorgen. Es gibt in Deutschland strikte Tier- und Artenschutzgesetze sowie Vorschriften für Mindestanforderungen. Im Frankfurter Zoo gibt es eine alte Flusspferdanlage, die nicht umgebaut werden kann. Die muss verbessert werden.
Es wird kritisiert, dass Zootiere Verhaltensstörungen entwickeln. Wie ist die Realität?
Verhaltensstörungen sind die Folge nicht art- beziehungsweise individuengerechter Haltung. Das ist nicht die Regel in gut geführten Zoos. Es gibt Beispiele von gestörten Menschenaffen, die jedoch aus Privathaltung stammen und im Zoo resozialisiert werden. Das mildert vorhandene Schäden.
Der 2011 von der Born Free Foundation veröffentlichte EU-Zoo-Report besagt, dass ein Drittel der deutschen Zoogehege nicht den Mindestanforderungen genügt, in 87 Prozent Verhaltens- und Beschäftigungsmaterial fehlen würde. Was sagen Sie dazu?
Das Problem sind die schlechten Zoos. Leider haben wir vor allem in unseren Nachbarländern nicht wissenschaftlich geführte Zoos, die primär von finanziellen Interessen geleitet sind.
Ein Vorwurf lautet, dass Zoos Millionen-Euro-Förderungen unter anderem für Zuchtprogramme erhalten, das Geld aber besser in Natur- und Artenschutz vor Ort investiert wäre.
Zoos investieren nicht unerhebliche Summen in Naturschutzprojekte vor Ort, zum Beispiel in der Serengeti. Damit allein erreicht man noch nicht das Publikum. Zootiere sind Botschafter für ihre wildlebenden Artgenossen. Leider gibt es einen steilen Abwärtstrend, etwa bei Orang-Utans im Freiland. Wir machen Spendenaktionen und klären Besucher auf, Palmöl und hochwertige Tropenhölzer zu vermeiden. Problem ist, dass die Lebensräume schrumpfen durch die Suche nach seltenen Rohstoffen wie Coltan für Handys. Wir sammeln gebrauchte Handys und geben sie ins Recycling, der Erlös von bisher mehreren 10.000 Euros fließt in den Gorillaschutz.
An Zuchtprogrammen wird kritisiert, dass sich Zootiere seltener fortpflanzen und durch Inzucht genetisch geschädigte Tierbabys entstehen, die eingeschläfert werden müssen.
Beides stimmt nicht. Zoos betreiben weltweit komplexe Zuchtprogramme und tauschen Tiere untereinander aus. Das wird international koordiniert, um sicherzustellen, dass sich keine verwandten Tiere fortpflanzen. Genau das wird vermieden.
Medienberichten zufolge verkaufen einige Zoos ältere Tiere, um Platz für Tierbabys, die als Publikumsmagneten dienen, zu schaffen. Jene sollen durch Tierhändler an Versuchslabore und Exotenrestaurants verkauft worden sein. Ist das gängige Praxis?
Ich kenne keinen Zoo, der Tiere zu diesen Zwecken verkauft. Das macht kein wissenschaftlich geführter Zoo. In Deutschland gibt es 70 Zoos im Verband der Zoologischen Gärten sowie rund 300 weitere Zoos. Ich kann nicht für alle sprechen.
Von Zooseite wird argumentiert, dass Zuchtprogramme bedrohte Arten retten. Gleichzeitig sind immer mehr Arten vom Aussterben bedroht. Ist das Augenwischerei?
Zoos haben einige Arten vor dem Aussterben bewahrt. So werden mit speziellen Zuchtprogrammen von in der Natur mit einem Pilz befallene Amphibien gerettet und es werden auch Tiere in der Natur wieder angesiedelt. Wir können aber nicht alle 16.000 bedrohten Arten retten. Im Weltzooverband fördern wir TRAFFIC, eine Institution, die den Handel mit Wildtieren beobachtet und bekämpft.
Was halten Sie von der Idee, Zootiere zu vergesellschaften, also mehrere Tierarten in einem Gehege zu halten?
Der Trend, Zootiere zu vergesellschaften, ist eine wunderbare Idee und eine Bereicherung für Tiere und Besucher, denn jene haben unterschiedliche Aktivitätsrhythmen und so haben alle mehr Abwechslung. Das Konzept hat Grenzen, man wird nicht Zebras mit Löwen vergesellschaften. Aber an sich ist es gut und wird immer häufiger umgesetzt.
Sind Zoos nicht obsolet geworden, weil man in TV-Dokumentationen exotische Tiere viel besser sehen kann?
Dazu ein klares nein. Die Menschen wollen Tieren sehen. Dafür sprechen die hohen Besucherzahlen. Wir haben allein in Frankfurt an die 900.000 im Jahr. Die Besucher wollen alles über die Tiere wissen: wie alt sie sind, was sie essen, wer Junge bekommen hat und wie es um die wildlebenden Verwandten in der Natur steht. TV-Dokumentationen, so schön sie sind, ersetzen nicht die originäre Begegnung mit den Tieren.
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zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
Aktiv im Thema
bmt-tierschutz.de | Deutschlandweit tätiger Tierschutzverein, der sich gegen die in Zoos angewendete verbotene Praxis einsetzt, dass Tiere flugunfähig gemacht werden
wdsf.eu | Wal- und Delfinschutzforum sowie gemeinnützige Organisation zum Schutz von Meeressäugern
bornfree.org.uk | Tierschutzorganisation, die im Auftrag des Netzwerks ENDCAP unter anderem den EU Zoo Report mitveröffentlichte, der 25 deutsche Einrichtungen untersuchte
Thema im Juli: NEUE ZÄRTLICHKEIT
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