Auf den ersten Blick ist sie eine Carmen wie aus dem Bilderbuch – oder vielmehr wie eine, die im Gelsenkirchener Barock auf billigen Kaufhausgemälden über dem Sofa hing: mit tiefschwarzer Wallemähne und überdimensionierten Goldringen in den Ohren. Wer nun denkt: „Oh Gott, ist der Regie denn gar nichts Originelles eingefallen“, sollte nicht gleich im ersten Akt die Dortmunder Oper verlassen. Denn letztlich ist Hausregisseurin Katharina Thoma eine wirklich herausragende Produktion gelungen, die zu Recht in der neuen Spielzeit wiederaufgenommen wird.
Das große, alles in ein neues Licht rückende Konzept mag diese Carmen zwar nicht zu bieten haben. Die handwerkliche Akkuratesse und Durchdachtheit der Details wird indes sehr schnell augenfällig. Einige Details brauchen allerdings ihre Zeit, um ihren Sinn zu offenbaren. Was etwa soll die abgerissene alte Flaschensammlerin gleich in der ersten Szene? Wer sehr aufmerksam beobachtet, wird das rote Kleid unter ihrem schäbigen Mantel bemerken. Bis man durchschaut, dass Thoma hier eine überlebende und alt geworden Carmen zeigt – sozusagen aus einem Paralleluniversum –, braucht es allerdings noch einige Auftritte und Akte.
Das ärmliche Milieu der Heldin wird dafür sehr schnell offenkundig. Die Kneipe von Lillas Pastia ist eine primitive Wellblechhütte irgendwo in der Wüste. Dahinter: hohe Zäune mit martialischem Stacheldraht. Carmens Umfeld ist eine skrupellose Schleuserbande an irgendeiner tristen Grenze. Um nicht unterzugehen, hat sie gelernt, Männer zu umgarnen und für sich einzuspannen – vor allem die korrupten Grenzsoldaten. José, der schneidige und ungewöhnlich integre Brigadier, erscheint ihr als Rettungsanker aus ihrem verkommenen Umfeld. Doch statt sich selber heraus, zieht sie José in ihren Sumpf hinein, nur um sich daraufhin mit Torero Escamillo dem nächsten vermeintlichen Hoffnungsträger zu widmen. Dass das nichts werden kann, ist von vornherein klar, so treffend – und keineswegs übertrieben – verkörpert Morgan Moody diesen eitlen Egomanen.
In dieser Inszenierung passen sowohl die Darsteller als auch die Stimmen durchweg sehr gut. Ileana Mateescu gibt die abgezockte, aber durchaus nicht unsympathische Carmen mit mal samtenem, mal glutvollem Mezzosopran. Christoph Strehl hat als José einen kräftigen, jung klingenden Tenor, setzt allerdings auch sehr gekonnt dunkle Färbungen ein. Bariton Moody schließlich strotzt auch stimmlich vor Virilität und Selbstbewusstsein. Das Dirigat teilen sich GMD Gabriel Feltz und sein zweiter Kapellmeister Philipp Armbruster, die sich im Hinblick aufs Tempo beide nichts schenken. Schon die Ouvertüre signalisiert dem Zuhörer, dass er sich in den kommenden gut drei Stunden mitunter gut in seinem Sitz festhalten sollte. Feltz hat es eindeutig bis an die obere Grenze getrieben, aber nicht übertrieben. Diese Carmen fesselt musikalisch wie szenisch. Kein Wunder, dass das Publikum bei der Produktion in die Dortmunder Oper strömte wie lange nicht mehr. Sie hat den Erfolg verdient.
„Carmen“ | R: Katharina Thoma | Sa 4.10.19.30 Uhr | Oper Dortmund | 0231 502 72 22
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