Es ist schwer, jene Solidarität nachzuvollziehen, die Benjamin Britten für seine erfolgreichste Figur verspürt hat. Zugegeben, die Außenseiterrolle des eigenbrötlerischen Fischers Peter Grimes kannte Britten nur zu gut; schon weil er sein Leben mit einem Mann verbrachte, zu Zeiten, in denen Schwulsein noch ein Stigma darstellte. Aber dieser Grimes ist nicht bloß ein Sonderling, der einen abweichenden Lebensstil pflegt, der niemanden sonst etwas anginge. Grimes trägt die Verantwortung für den Tod zweier Lehrjungen, die in seiner Obhut waren und die er offensichtlich schlecht behandelt hat. Obwohl es keine letzte Gewissheit gibt, sind die vielen Anzeichen doch nicht zu übersehen: Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Peter Grimes pädophil und ein Mörder.
Die Regie stellt diese nüchterne Erkenntnis vor ein Dilemma: Entweder sie stellt sich in den Dienst der mitfühlenden Partitur und belässt es bei nebulösen Andeutungen eines dunklen, doch nicht vollständig bewiesenen Abgrunds im Charakter der Figur – so wie es in aller Regel passiert. Oder sie folgt der Logik der Handlung und stellt einen nicht auflösbaren Widerspruch heraus. Regisseur Tilman Knabe entscheidet sich am Theater Dortmund für letzteren Ansatz und verfolgt ihn konsequent. Der Schiffsjunge findet den Tod nicht durch einen Unfall oder einen verzweifelten Sprung in die Tiefe: er wird von Grimes im Bett erstochen und anschließend wie Müll entsorgt.
Das passt zur allgemeinen Tristesse und Verdorbenheit des sehr heutigen Fischerdorfs, das Knabe entwirft. Nach der Arbeit hängen die Fischer wie die Frauen am Hafen herum, saufen, starren auf ihre Smartphones oder gehen in den Pub, der eigentlich ein Puff ist. Die Regie und auch das Bühnenbild von Annika Haller verweigern demonstrativ jede Meeresromantik. Die Verheißung „Ocean View“ über dem schangeligen Büdchen, an dem sich das Dorf mit Alkohol versorgt, ist ein schlechter Witz, denn eine hohe Betonmauer versperrt jeden Blick aufs Meer. Radikaler ließe sich keine Abgrenzung zur musikalischen Sprache der Oper, die sich ganz wesentlich auf die Naturgewalten bezieht, treffen. „Thema verfehlt“, kann man nun urteilen oder sich auf die durchaus treffende wie bissige Entlarvung dieser Gesellschaft einlassen.
Etwa auf jene Ellen Orfords, der Lehrerin mit Helfersyndrom, die als Lohn für ihren „Rettungsversuch“ von Grimes kräftig aufs Maul gehauen bekommt. Emily Newton singt mit schönem lyrischen Ausdruck und agiert mit großer Glaubwürdigkeit. Peter Marsh indes fängt in der Titelpartie die Widersprüche gekonnt auf. Ihm gelingt die brutale Seite des Mörders ebenso überzeugend und stimmgewaltig wie die zarte Larmoyanz – denn als solche wirkt Grimes’ Traurigkeit in diesem radikalen Deutungskontext. Das durchweg hohe musikalische Niveau verantwortet GMD Gabriel Feltz.
„Peter Grimes“ | R: Tilman Knabe | So 12.6. 18 Uhr | Opernhaus Dortmund | 0231 502 72 22
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