Sommergewitter dienen in der Regel der Entladung: Aufgestaute Energie bricht sich Bahn, damit danach alles weitergehen kann wie gehabt. Insofern könnte man das Interview mit dem Schauspieler Shenja Lacher vom Münchner Residenztheater im der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 3. August als atmosphärische Störung ohne Folgen abtun. Ist außerdem weit weg vom NRW-Sektor. Doch Lachers Aussagen weisen erstaunliche Parallelen zum Interview mit Pinar Karabulut in dieser Ausgabe auf. So wie die junge Regisseurin das deutsche Theatersystem drastisch als „weiß, männlich, heterosexuell“ charakterisiert, zielt Lachers Kritik auf dessenüberlebte Hierarchie: „Ich liebe Theater über alles, aber die Strukturen innerhalb des Theaters sind mir zu autokratisch, fast noch feudalistisch.“ Es ist kein Geheimnis, dass die Macht der vor allem männlichen Intendanten zumindest über das künstlerische Personal unter dem Deckmantel künstlerischer Notwendigkeit bis an die Grenzen ausgeübt wird. „Ich brauche niemanden, der mich anschreit“, sagt Lacher zu den Umgangsformen in München. „Erst einmal sollte man alles ausprobieren dürfen in den Proben und nicht immer das Wort ‚Scheiße‘ hören müssen.“ Ein Regisseur müsse Vertrauen vermitteln, so Lacher. Tut es aber offenbar nicht – und deshalb hat Shenja Lacher, der seit 2008 zu den tragenden Säulen im Ensembleunter Intendant Martin Kušej gehört, jetztseinen Vertrag gekündigt: „Ich möchte mich diesem System nicht mehr aussetzen und zur Verfügung stellen.“
Zu Lachers Kritik der Struktur totaler Abhängigkeit gehören auch die jährlich kündbaren Arbeitsverträge. „Wenn du nach Meinung des Intendanten etwas in den Sand gesetzt hast, könnte eine Nichtverlängerung aus künstlerischen Gründen drohen“, so der Schauspieler. Hinzu kämen die Kündigungswelle bei Intendantenwechseln. Praktiken, die in keinem Unternehmen möglich wären. Es kommt nicht von ungefähr, dass Lacher auf das an dieser Stelle schon erwähnte „ensemble-netzwerk“ verweist, das sich kürzlich in Bonn gegründet und Forderungen wie Gleichberechtigung von Männern und Frauen, Mitbestimmungsrechte, Arbeitszeitregelungen oder ein transparentes Gagensystem stellt. Forderungen, die in der Wirtschaft erreichter Standard sind und im Theater revolutionären Charakter haben.
Während Pinar Karabuluts Kritik eher den Akzent auf postkolonialistische, postmigrantische und Gender-Aspekte legt, akzentuiert Shenja Lacher die hierarchischen Organisationsformen und die angeblich kunstfördernde Autokratie im Theater. Im Kern treffen sich beide in einer fundamentalen Strukturkritik. Doch während die junge Regisseurin am Anfang ihrer Karriere steht und das System von innen zu verändern hofft, zieht Lacher die radikale Konsequenz. Dass er sich diesen Schritt angesichts zahlreicher Fernsehangebote leisten kann, privilegiert ihn gegenüber vielen Kollegen. Nichtsdestotrotz: Lange nicht mehr wurde die heuchlerische Avanciertheit des Theaterbetriebs derart offen demontiert.
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