Und wieder einmal wandern Trash-People durch den Raffelbergpark in Mülheim. HA Schult macht seine (letzte) Performance? Nee. Die Müllviecher, die hier kursieren, sind Teil der „Weißen Nächte“ vom umweltbewussten Theater an der Ruhr, das dieses abendliche Kunst-Event in der Mid-Sommerzeit seit Jahren etabliert und es seit letztem Jahr auf ein dreiwöchiges Festival ausgeweitet hat. Die Müllviecher sind ein partizipatives Projekt mit der Stadt, quasi lyrisches Recyclen von Plastikmüll, mitten in der Pandemie gewesen. Und diese Cyborg-ähnliche Spezies scheint ein Eigenleben entwickelt zu haben – auch um eine Zukunft zu generieren?
Viele der Lebenswesen hatten keine. Aus den „Viechern“ dringen Texte aus Thomas Köcks Drama „und alle tiere rufen: dieser titel rettet die welt auch nicht mehr (monkey gone to heaven)“. Die Worte und Laute werden gezischt, gebrüllt und geflüstert. So ziehen an den Besuchern Tierarten vorbei, die diesen Planeten bereits verlassen haben. Eine Weissagung? Vielleicht. Denn Motto und Leitmotiv des multiperspektivischen Festivals sind geblieben: Retour Natur. Abendliche Besucher mit frei gewähltem Eintritt können sich auf Theater, Konzerte, Performances, Audio-Walks, Diskurse, Parties und Installationen freuen, alles auch gegen den „Ungeist“ der Zeit.
Im Zentrum stehen zwei Premieren: Philipp Preuss inszeniert Henrik Ibsens „Die Frau vom Meer“ auf Pontons im See des Raffelbergparks. Die schwimmenden Inseln könnten ein trockener Lebensraum für die Sagengestalten der Meerjungfrauen sein, die als Mischwesen zwischen Mensch und Tier selbst um ihren ureigenen Lebensraum kämpfen müssen, wobei wir da auch wieder bei den Plastikmüllwesen angekommen sind und den damit verbundenen ausgestorbenen Arten?
In eine andere mögliche digitale Zukunft führt eine Adaption von Gustav Schwabs Ballade „Der Reiter und der Bodensee“. Simone Thoma inszeniert mit „Anatomie eines Wortes – Ritt über den Bodensee“ von Anza Pamber und Peter Handke die zweite Premiere in den Weißen Nächten und stellt darin die Frage, ob KI eine neue Maßeinheit für Menschen werden wird, deren evolutionäre Entwicklung möglicherweise nur noch mit Hilfe von Maschinen generiert wird.
Zumindest beim experimentellen Teil des wieder von Martin Kohlstedt kuratierten Konzertprogramms, werden Maschinen vielleicht eine besondere Beziehung zwischen Musik, Mensch und Natur herstellen. Denn im Subtext der Veranstaltungen steht auch die allgegenwärtige, immer bedrohlicher werdende Klimaveränderung. Der sisyphosartige Kampf dagegen – ich zitiere einmal schnell ein aktuelles, zynisches Zitat eines scheinbar geistesgestörten US-Expräsidenten: „Dann gibt es mehr Grundstücke am Strand“ – mag angesichts wieder zunehmender Pandemiesorgen, Gasknappheit, Putins menschenverachtendem Angriffskrieg in der Ukraine und der lustigen Renaissance der strahlenden CO2-neutralen Atommeiler ausgehen wie er will: nur im Einklang zwischen Mensch und Natur kann eine Zukunft mit Menschen auf dem Planeten möglich sein. Auch davon handeln die theatralischen „Lehrstücke“ und „Lehrpfade“ bei den Weißen Nächten in Mülheim.
Weiße Nächte / Retour Natur | 19.8.-4.9. | Theater an der Ruhr, Mülheim | 0208 599 01 88
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wie konnte das passieren?
„Judenhass Underground“ in der Mühlheimer vier.zentrale
Jünger und weiblicher
Neue Leitungsstruktur am Mülheimer Theater an der Ruhr – Theater in NRW 10/24
Das Trotzen eines Unglücks
Die neue Spielzeit der Stadttheater im Ruhrgebiet – Prolog 08/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
„Theater wieder als Ort einzigartiger Ereignisse etablieren“
Dramaturg Sven Schlötcke übertiefgreifendeVeränderungen am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/23
Ibsen im syrischen Knast
„Up there“ am Theater an der Ruhr – Prolog 11/22
Vom Universum geblendet
„Vom Licht“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 04/22
Gegen den Mangel an Erkenntnis
„Vom Licht“ in Mülheim – Prolog 03/22
Nebel, Schaum und falsche Bärte
„Nathan.Death“ am Theater an der Ruhr – Auftritt 11/21
Wenn die Natur zum Ausnahmezustand wird
Vladimir Sorokins „Violetter Schnee“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Bühne 08/21
Beuys inklusive Torte, Kerze und Whisky
Theater, Kunst und Musik gegen Kohle: die Weißen Nächte im Theater an der Ruhr – Festival 08/21
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24