Seit drei Jahrzehnten bin ich Gast in der Welt des Kindertheaters und habe viele Produktionen als Jurymitglied des Kölner Kindertheaterpreises gesehen. Eine Beobachtung habe ich dort immer wieder machen müssen, über die niemand spricht. Kaum hat die Vorstellung begonnen, da sind schon die ersten flehentlichen Sätze aus dem Publikum zu vernehmen: „Ich möchte gehen“ oder „Ich habe Angst“, wonach sich ein Elternteil zu der Bemerkung „Du brauchst keine Angst zu haben“ hinreißen lässt. Wie wirkungsvoll solche Beteuerungen sind, zeigen die Kinderhände, die sich in die Erwachsenenschulter krallen, während der Blick in Panik vereist. Warum kommt es zu solchen Szenen an einem Ort, der dem jungen Publikum Freude bereiten sollte?
Oftmals sind die Kinder noch zu jung für die jeweilige Produktion und es ist ihr erstes Theatererlebnis. Dabei zeigt sich: Es ist nicht die Dunkelheit im Theatersaal, die sie ängstigt, sondern die Verwandlung der Darsteller. Dass Menschen im Theater anders sprechen als im Alltag, verstört die Kinder. Eine Reaktion, die uns die subtile Wirkung des Schauspiels bezeugt, die wir im Gegensatz zu den Kindern nicht mehr registrieren. Das Drama beginnt jedoch erst mit der Reaktion der Eltern. Denn die versuchen ihren Nachwuchs mit Beschwichtigungen ruhig zu stellen. Was natürlich nicht funktioniert. Das quengelnde Kind ist peinlich, und noch peinlicher ist es, nun aus der Reihe aufzustehen und hinaus zu gehen. Die Erfahrung jedoch lehrt, dass genau diese Reaktion helfen kann. Das Kind erlebt dann, dass seine Ängste ernst genommen werden. Kinder, die wissen, dass man auch einmal hinaus gehen kann, entwickeln schnell den Ehrgeiz, wieder in den Theatersaal zurückzukehren. Der erste Schreck ist überstanden. Das Theater ist nicht länger ein Ort des Horrors, sondern einer des Abenteuers, an den man gerne zurückkehrt.
Dem Konflikt geht eine Mésalliance zwischen Eltern und Theaterschaffenden voraus. Die meist jungen Eltern suchen das Stück aus und sind selbst schon voller Vorfreunde auf den Theaterbesuch. Durch ihren Nachwuchs eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, das Kindertheater einmal richtig kennenzulernen. Fraglos eine tolle Sache, da schauen sie großzügig über die Altersangabe hinweg. Genauso wie die Theaterschaffenden, die Altersbeschränkungen gerne tief ansetzen, damit sie sich selbst nicht das Publikum abgraben. Was kann helfen? Auf die Reaktion der Kinder zu achten, nichts ist peinlich im Theater.
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