trailer: Herr Gössner, das Bundesverwaltungsgericht hat geurteilt, dass der Verfassungsschutz Sie vier Jahrzehnte lang grundrechtswidrig beobachtet hat. Wie kam es dazu?
Rolf Gössner: Tatsächlich bin ich von 1970 bis Ende 2008 vier Jahrzehnte lang vom Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), ansässig in Köln, beobachtet und ausgeforscht worden: als Jurastudent, Gerichtsreferendar und danach fast ein Arbeitsleben lang in allen meinen beruflichen und ehrenamtlichen Funktionen als Publizist, Rechtsanwalt, parlamentarischer Berater, auch als Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte und seit 2007 zudem als stellvertretender Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen. Dabei ist eine über 2000-seitige Personenakte mit Informationen über mich, meine Aktivitäten und Kontakte aufgetürmt worden. Es dürfte die längste Dauerbeobachtung einer unabhängigen, parteilosen Einzelperson durch den Inlandsgeheimdienst „Verfassungsschutz“ sein, die bislang dokumentiert werden konnte und die das Bundesverwaltungsgericht Ende 2020 rechtskräftig für grundrechtswidrig erklärte. Zur Last gelegt wurden mir zunächst berufliche und ehrenamtliche Kontakte zu angeblich „linksextremistischen“ und „linksextremistisch beeinflussten“ Gruppen und Veranstaltern, bei denen ich referierte und diskutierte; aber auch zu bestimmten Presseorganen, in denen ich – neben vielen anderen Medien – veröffentlichte, denen ich Interviews gab oder in denen auch nur über meine bürgerrechtlichen Interventionen berichtet wurde. Dazu zählten politische Parteien wie die DKP, Organisationen wie die Rechtshilfegruppe Rote Hilfe, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) oder Presseorgane wie Neues Deutschland (nd) und junge Welt (jW). Später schob das BfV noch Anschuldigungen nach und zog auch den Inhalt meiner Schriften in Misskredit. Dabei setzte es meine bürgerrechtliche Kritik an staatlichen Sicherheitsorganen, an grundrechtsschädigender Sicherheits- und Antiterrorpolitik einem schwer nachvollziehbaren Extremismusverdacht aus, der in dem abstrusen Vorwurf gipfelte, ich wolle mit meiner angeblich „diffamierenden“ Kritik etwa am KPD-Verbot, an Berufsverboten, an Polizei oder Geheimdiensten den Staat wehrlos machen gegen seine inneren Feinde. Damit maßte sich der Verfassungsschutz eine Deutungshoheit über meine Texte in geradezu inquisitorischer Weise an – nach dem dokumentierbaren Motto: Was ich da äußere, „klingt zwar auf den ersten Blick ganz demokratisch, aber gemeint hat er etwas ganz anderes“. Beispiel: Des Öfteren habe ich davon geschrieben, dass es zur Lösung bestimmter Probleme einer tiefgreifenden gesellschaftlichen und ökonomischen Veränderung bedürfe. Daraufhin kramte das Bundesamt das „Politische Wörterbuch der DDR“ aus seiner Asservatenkammer, in dem zu lesen sei, was ich und manche meiner Leser:innen damit eigentlich meinten: eine sozialistische Revolution, die mit der Verfassung nicht zu vereinbaren sei. Man fühlt sich dabei unweigerlich an inquisitorische Verfahren, an finstere Zeiten der McCarthy-Ära und des Kalten Kriegs erinnert.
„Es dürfte die längste Dauerbeobachtung einer Einzelperson sein“
Was hat es mit der „Kontaktschuld“ auf sich, die in Ihrer Überwachungsgeschichte immer wieder genannt wird?
Mit „Kontaktschuld“ charakterisiere ich jene Anschuldigung des Bundesamtes gegen mich, die meine Beobachtung hauptsächlich begründen sollte: nämlich meine beruflichen Kontakte zu gewissen Organisationen und Parteien. Damit soll ich, so die Unterstellung, als „prominenter Jurist“ besagte – nicht verbotene, aber als „linksextremistisch(-beeinflusst)“ eingestufte – Gruppen und Presseorgane „nachdrücklich unterstützt“ haben. Aus vollkommen legalen und legitimen Berufskontakten eines Anwalts und Publizisten konstruierte man also eine „Kontaktschuld“. Dabei hatten die „Verfassungsschützer“ tatsächlich alle Not, die jahrzehntelange Überwachung einer Einzelperson, die keiner als „extremistisch“ eingestuften Organisation oder Partei angehörte, nur auf deren rein berufliche und ehrenamtliche Kontakte zu stützen. Wohl deshalb verging sich das Bundesamt später auch noch am Inhalt meiner Texte und verstieg sich obendrein vor Gericht zu einer ganz abenteuerlichen Konstruktion. Zitat aus den Akten: „Dabei agiert [Gössner] ganz bewusst nicht als Mitglied einer offen extremistischen Partei oder Organisation. Nicht etwa, weil er sich von den verfassungsfeindlichen Zielen der unterstützten Organisationen distanziert, sondern weil er so seine Glaubwürdigkeit nach Außen als vermeintlich unabhängiger Experte zu wahren versucht.“ Damit wird behauptet, ich sei seit Jahrzehnten taktisches Nichtmitglied diverser, völlig disparater „linksextremistischer“ Gruppen – was dem Verfassungsschutzoffenbar ganz besonders konspirativ, perfide, verdächtig und gefährlich erschien. Dieser wahnhaften „Kontaktschuld“-Konstruktion halte ich entgegen: Eine offene, liberale Demokratie lebt von Kritik und kontroverser Diskussion auch und gerade mit Andersdenkenden – nichts anderes ist mir letztlich vorzuwerfen. Es ist meines Erachtens Gift für eine demokratische Gesellschaft, wenn solches unter geheimdienstliche Beobachtung und Kuratel gestellt wird.
„Meine Berufsfreiheit und berufliche Praxis war mehr als beeinträchtigt“
Wie fühlt es sich an, „beobachtet“ zu werden? Wie hat das Wissen darum Ihr alltägliches Leben beeinflusst?
Ein Geheimdienst betreibt seine Beobachtungen und Ausforschungen in der Regel geräuschlos und unsichtbar: mit Spitzelberichten von V-Leuten und Informanten über Kontakte und Aktivitäten der zu beobachtenden Person oder Gruppe an den Verfassungsschutzsowie Sammlung und Auswertung von deren Äußerungen und Texten in Akten und Dateien. Aber in meinem Fall wandte sich der Verfassungsschutzzu Beginn seiner Beobachtung auch an meine Familie, um sie vor meinen Reisen in den damaligen (kommunistischen) „Ostblock“ zu warnen, wo ich meine polnische Freundin treffen wollte. Später wurden meine Hausnachbarn über mich als politisch engagierten Studenten und über mögliche Auffälligkeiten ausgehorcht. Auch Postsendungen sind überwacht, teilweise geöffnet worden; hinzu kamen zeitweise recht offensichtliche Observationen. Im Zusammenhang mit meinen späteren Berufstätigkeiten kommt noch ein gravierender Umstand hinzu: Denn als Anwalt und Publizist bin ich zweifacher Berufsgeheimnisträger – zum Schutz meiner Mandant:innen und Informanten. Doch unter Beobachtungsbedingungen musste ich immer befürchten, dass meine oft heiklen investigativen Recherchen und Kontakte zu bestimmten Informanten und Whistleblowern ausgespäht und diese dadurch gefährdet würden. Um sie dennoch so gut wie möglich zu schützen, bedurfte es oft aufwändiger Klimmzüge. Auch als Anwalt und Strafverteidiger musste ich mit geheimdienstlicher Ausforschung rechnen. Seit meine Überwachung 1996 amtlich bestätigt und publik wurde, sah ich mich genötigt, meine Mandant:innen darüber aufzuklären. Mandatsgeheimnis und Informantenschutz waren jedenfalls so nicht mehr zu gewährleisten, die verfassungsrechtlich geschützten Vertrauensverhältnisse zwischen Anwalt und Mandant sowie zwischen Journalist und Informant waren erschüttert, meine Berufsfreiheit und berufliche Praxis damit mehr als beeinträchtigt. Tatsächlich beeinträchtigte diese staatliche Dauerbeobachtung den Großteil meines Arbeitslebens. Dabei musste ich mich auch immer wieder der bangen Frage stellen, was das Wissen um meine Beobachtung und die Negativbewertung durch den Verfassungsschutzmit mir und aus mir gemacht hat, ob sich mein Verhalten dadurch etwa verändert, ob ich mich womöglich schleichend anpasse, Themen, Kontakte und Debatten meide: ob also die Schere im Kopf seitdem klammheimlich ihr zerstörerisches Unwesen treibt.
„Geholfen haben mir zahlreiche Solidaritätsaktionen“
Wer oder was hat Ihnen geholfen, diese Belastungen durchzustehen?
Die Auswirkungen ließen sich letztlich nur mit sozialer Rückenstärkung, Bewusstwerden und einer guten Portion Gelassenheit und Humor konterkarieren. Besonders geholfen haben mir dabei mein soziales Umfeld sowie zahlreiche Solidaritätsaktionen – u.a. von Mitgliedern des PEN-Clubs und des Verbands Deutscher Schriftsteller unter Beteiligung von Günter Grass, Dieter Hildebrandt, Lew Kopelew, Horst-Eberhard Richter, Uwe Timm, Gerhard Zwerenz u.a., sowie von Bürger- und Menschenrechtsorganisationen, Gewerkschaften und Berufsvereinigungen. Geholfen hat mir auch die durchgängig positive mediale Aufmerksamkeit und dass ich dieses schier unglaubliche „Lehrstück in Staatskunde“ vortrefflich in meine berufliche Aufklärungsarbeit über den fatalen Weg in einen präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat einbinden konnte. Als besonders hilfreich hat sich natürlich auch meine gerichtliche Gegenwehr mit anwaltlicher und gewerkschaftlicher Unterstützung herausgestellt, ohne die ich womöglich heute noch unter Beobachtung stünde. Nach einem 15 Jahre dauernden und durchaus belastenden – etlichen Menschen auch mutmachenden – Gerichtsverfahren durch alle Instanzen habe ich endlich meine Rehabilitierung erreicht: Die gesamte Beobachtung durch den Verfassungsschutzwar von Anfang an und vier Jahrzehnte lang unverhältnismäßig und grundrechtswidrig. So urteilten das Verwaltungsgericht Köln (2011), das Oberverwaltungsgericht NRW (2018) sowie abschließend und rechtskräftig Ende 2020 das Bundesverwaltungsgericht. Aus diesem beispiellosen Fiasko einer geradezu kafkaesken Überwachungsgeschichte müssten dringend überfällige politische, behördliche und gesetzgeberische Konsequenzen gezogen werden. Doch eine diesbezügliche parlamentarische Anfrage der Linksfraktion an die (vorige) Bundesregierung offenbarte, dass diese keinerlei Veranlassung sah, solche Konsequenzen aus diesem Geheimdienstskandal zu ziehen. Man denkt dabei unwillkürlich an organisierte Verantwortungslosigkeit – oder, wie die Linksfraktion im Bundestag titelte, an „Arroganz der Macht“.
„‚Verfassungsschutz‘ ist ein irreführender Tarnname“
Was ist die Aufgabe des Verfassungsschutzes?
Nach herrschender Auffassung wird die Bundesrepublik bekanntlich als „wehrhafte Demokratie“ definiert. Und so erhielt der Verfassungsschutzals eines ihrer Sicherheitsorgane die Funktion, offen oder verdeckt Informationen unter anderem über Bestrebungen gegen die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ zu sammeln und auszuwerten. Seine Aufgabe ist der Schutz dieser Grundordnung sowie des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder. Als sogenanntes Frühwarnsystem soll er Regierungen und Parlamente über „extremistische“ oder „verfassungsfeindliche Bestrebungen“ frühzeitig informieren, in gewissem Maße auch die Öffentlichkeit. „Verfassungsschutz“, das hört sich zunächst ganz gut und sinnvoll an: nach Schutz der Verfassung, der Grundrechte, womöglich der Demokratie. Doch was verbirgt sich hinter diesem wohlklingenden Begriff wirklich? Kurze Antwort: Ein veritabler Regierungsgeheimdienst mit geheimen Mitteln, Methoden und Strukturen. „Verfassungsschutz“ ist so gesehen also eher ein irreführender Tarnname, mit dem sein Geheimdienst-Charakter, seine Mittel und Methoden verschleiert werden. Und dazu gehören: Verdeckte Mitarbeiter, V-Leute, Informanten, Lockspitzel und technische Hilfsmittel für Lausch- und Spähangriffe. Damit beobachtet und infiltriert er unter gewissen Voraussetzungen politisch Verdächtige, auch legale Gruppen und Parteien und forscht sie aus; aber auch Individuen, angebliche oder mutmaßliche „Extremisten“ oder „Verfassungsfeinde“ – Begriffe, für die es keine Legaldefinition gibt. Oder wie der Jurist und Journalist Ronen Steinke in seinem neuen Buch „Verfassungsschutz. Wie der Geheimdienst Politik macht“ formuliert: Der Verfassungsschutz „ist ein Geheimdienst, der die eigenen Bürgerinnen und Bürger ausspäht, selbst wenn diese keine Gesetze verletzen (…) Einen solchen Geheimdienst haben andere westliche Demokratien nicht“. Diese geheimdienstliche Überwachung zumeist legaler politischer Oppositionsarbeit passiert also schon weit im Vorfeld eines bloßen (Straftat-) Verdachts oder einer messbaren Gefahr. Das bedeutet: Der Verfassungsschutzbetreibt praktisch im grundrechtlich geschützten Meinungsbereich ideologische Gesinnungskontrolle und beansprucht Definitionsmacht hinsichtlich der Frage, was hierzulande als „extremistisch“ zu gelten hat und was nicht. Insoweit übt er wirklichkeitsmächtige Sprachherrschaft aus, mit weitreichenden Folgen für Betroffene, die damit nicht selten stigmatisiert und aus dem öffentlich-demokratischen Diskurs ausgegrenzt werden können.
„Prägende Auswirkungen auf die bundesdeutsche Entwicklung“
Der Verfassungsschutz wurde 1950 gegründet, zu Beginn des Kalten Krieges. Wie hat das damalige politische Klima seine Ausrichtung geprägt?
Um es kurz zu sagen: ziemlich verheerend. Denn seine Ursprünge machten den Verfassungsschutzletztlich zu einem ideologisch-einseitigen und, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schreibt, zu einem „besonders aggressiven Kind“ des Kalten Krieges – gezüchtet als nachrichtendienstliche Waffe eines militanten Antikommunismus im Ost-West-Konflikt der 1950er Jahre. Mit dem Ziel, Westdeutschland zum „Bollwerk gegen den Kommunismus im Osten“ auszubauen sowie die Wiederbewaffnung (und Westintegration) der Bundesrepublik gegen alle Widerstände abzusichern. Systematische Ausspähung, Stigmatisierung und gesellschaftliche Ausgrenzung von Kommunist:innen, ihren Organisationen und ihrer Partei, von anderen Linken und Antifaschisten aus dem politischen Willensbildungsprozess waren die „verfassungsschützerischen“ Folgen. Die einseitige Ausrichtung des Verfassungsschutzesgegen Links lag auch daran, dass seine Geschichte „rechtsradikal” begonnen hatte – nämlich mit Altnazis, die schon in der NS-Zeit bei Gestapo, SS und Nazijustiz einschlägig tätig waren. Das alles hatte prägende Auswirkungen auf die bundesdeutsche Entwicklung: denkt man nur an die extensive Kommunistenverfolgung der 1950er und 60er Jahre mit hunderttausenden Betroffenen oder später an die gegen Linke gerichtete einschüchternde und existenzbedrohende Berufsverbote-Politik der 1970er und 80er Jahre, die zu millionenfachen Ausforschungen führte und der Tausende Menschen mit ihren Lebensentwürfen zum Opfer fielen. An diesen und weiteren dunklen Kapiteln bundesdeutscher Geschichte war der Verfassungsschutzmaßgeblich beteiligt. Gegen Rechts – sprich gegen Alt- und Neonazis – hielt sich der Verfassungsschutzvon Anfang an eher zurück, waren diese doch schon zu Beginn der neuen Bundesrepublik weitgehend in Gesellschaft und Bürokratie, in Exekutive und Judikative reintegriert worden.
„Verfassungsschutzbehörden bagatellisierten rechtsradikale Gruppierungen“
Gab es einen Bruch mit dem Fokus auf „linksextremistische“ Aktivitäten, oder wirkt er fort?
Nein, einen wirklichen Bruch gab es nicht. Doch nach dem Umbruch in Osteuropa, dem Ende der DDR und damit auch dem Ende des Kalten Krieges Anfang der 1990er Jahre ist der Verfassungsschutzzunächst in eine tiefe Sinnkrise geraten, wurde er doch nach Wegfall der „kommunistischen Be-drohung“ recht unvorbereitet – von wegen „Frühwarnsystem – um seine altbewährten Feindbilder gebracht. Nach anfänglicher Trauerarbeit, nach Irritationen und ersten Personalreduzierungen wurde aber wieder kräftig ausgebaut – gen Osten und gesamtdeutsch. Seitdem haben wir 17 Verfassungsschutzbehörden in Bund und Ländern mit Tausenden von hauptamtlichen Bediensteten und einem kleinen Heer von Informanten, V-Leuten und Lockspitzeln. Dabei konnte auch der Rechtsextremismus, der sich seit Beginn der 1990er Jahre als eine zunehmende Gefahr herausgestellt hatte, vortrefflich als Legitimation für Weiterexistenz und Ausbau des Verfassungsschutzesund seines V-Leute-Netzes genutzt werden. Zu welchem Desaster dies letztlich führte, mussten wir u.a. nach Auffliegen des NSU und seines Umfelds erfahren. Obwohl seit Anfang der 90er Jahre in Nazi-Szenen und -Parteien ein regelrechtes Netzwerk aus V-Leuten und Informanten geknüpft worden ist, konnten die meisten Verfassungsschutzbehörden weder die Vermehrung rechter Organisationen und Aktivitäten rechtzeitig vorhersagen noch die Zunahme rassistischer Gewalttaten erklären. Und lange Zeit bagatellisierten sie die organisatorischen Qualitäten rechtsradikaler Gruppierungen – obwohl es längst starke Ansätze zur Organisierung und Vernetzung gab sowie auch alarmierende Anzeichen für eine wachsende Gewaltbereitschaft mit rechtsterroristischen Tendenzen. Nazis, rechte Gewalt und Terror konnten sich so fast unbehelligt entwickeln und ihre Blutspur durch die Republik ziehen – mit weit über 200 Toten seit 1990.
„Verfassungsschutzbehörden widersprechen demokratischen Prinzipien“
Wie wird der Verfassungsschutz kontrolliert, und wie gut ist diese Kontrolle?
Als Inlandsgeheimdienst hat der Verfassungsschutzpraktisch die Lizenz zur Konspiration und Infiltration, Täuschung und Manipulation, Vertuschung und Desinformation. Vor allem seine geheimen Mittel, Methoden und Strukturen machen es schwer bis unmöglich, ihn so wirksam zu kontrollieren, wie das für eine rechtsstaatliche Demokratie eigentlich selbstverständlich sein müsste. Daran ändern auch die Kontrollen auf Länder- und Bundesebene eher wenig, denen die Verfassungsschutzbehörden unterzogen werden: weder die Kontrolle der G-10-Kommissionen hinsichtlich der Genehmigung von Überwachungsmaßnahmen, die tief in die Grundrechte des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses eingreifen noch die Kontrolle durch die Parlamentarischen Kontrollgremien (PKGr) der Landtage und des Bundestags. Zwar sind Regierungen gesetzlich verpflichtet, die PKGr umfassend über die allgemeinen Tätigkeiten der Verfassungsschutzbehörden und über Vorgänge von besonderer Bedeutung zu unterrichten. Doch ob dies tatsächlich geschieht, ist nur schwer überprüfbar; in der Praxis bleibt die Unterrichtung nicht selten rudimentär – zumeist aus Sicherheits- und Geheimhaltungsgründen. Die Beratungen der Kontrollgremien ebenfalls geheim, da das Wirken der zu kontrollierenden Geheimdienste naturgemäß insgesamt geheim bleiben muss, und ihre Mitglieder sind zur Verschwiegenheit verpflichtet – selbst gegenüber ihren Fraktionen und den anderen Parlamentsmitgliedern. Eine solch systembedingt geheime und beschränkte Kontrolle ist zwar konsequent – jedoch keine wirklich rechtsstaatlich-demokratische und effektive Vollkontrolle. Das bedeutet: Die Verfassungsschutzbehörden als Regierungsgeheimdienste widersprechen demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit. Sie sind und bleiben Problemfälle der Demokratie, die ausgerechnet für den Schutz von Verfassung und Demokratie zuständig sein sollen. Kein Wunder, dass solche Geheimorgane auch in einer Demokratie immer wieder zu Verselbstständigung, Willkür und Machtmissbrauch neigen, wie ihre ellenlange Skandalgeschichte eindrucksvoll belegt. Das Geheimhaltungs- und Vertuschungssystem der Inlandsgeheimdienste des Bundes und der Länder umschlingt nicht nur die Parlamente, sondern auch die Justiz, die die Geheimdienste ja in Einzelfällen ebenfalls kontrollieren sollen. Gerichtsprozesse, in denen etwa V-Leute oder geheime Dokumente eine Rolle spielen, werden tendenziell zu rechtsstaatswidrigen Geheimverfahren, in denen Verfassungsschutzakten etwa aus Gründen des „Quellenschutzes“ oder des „Staatswohls“ – wie in meinem Fall – vorenthalten oder manipuliert und Zeugen ganz oder teilweise gesperrt werden. Das bedeutet letztlich: Sobald Geheimdienste ihre Finger im Spiel haben, sind Demokratie, Bürgerrechte und Rechtsstaat in Gefahr, bleiben Aufklärung und Wahrheit zwangsläufig auf der Strecke. Zugespitzt formuliert: Hier endet der demokratische Sektor.
„Strafvereitelung im Amt“
Prominentes Beispiel für ein „Versagen“ des Verfassungsschutzes ist der NSU-Komplex. Welche Chancen sehen Sie, dass dieser und andere Fälle nachhaltig aufgearbeitet werden?
Interessant ist zunächst, dass der Thüringer Verfassungsschutz und andere Geheimdienste schon im Nazi-Sammelbecken Thüringer Heimatschutz mit Dutzenden V-Leuten involviert waren, aus dem heraus sich der NSU und seine Unterstützer unter den Augen der Geheimdienste entwickeln konnte. Die NSU-Mordserie hätte womöglich verhindert werden können, wenn der Verfassungsschutz seine Erkenntnisse über die Untergetauchten und ihre Unterstützer, an denen seine V-Leute hautnah dran waren, rechtzeitig an die Polizei weitergegeben hätte, wozu er gesetzlich verpflichtet war. Auf der Anklagebank des Oberlandesgerichts München hätten seinerzeit also weit mehr Angeklagte sitzen müssen als Zschäpe, Wohlleben & Co: Hier fehlten die involvierten V-Leute, ihre V-Mann-Führer und alle für Versagen, Unterlassen und Vertuschen Verantwortlichen aus Verfassungsschutz, Polizei und Sicherheitspolitik. Besonders erschreckend fand ich im Zuge meiner eigenen Recherchen, wie selbstverständlich und skrupellos der Verfassungsschutz seine kriminell gewordenen V-Leute allzu häufig deckt, systematisch gegen polizeiliche Ermittlungen abschirmt, sogar Belastungsbeweise unterdrückt, um seine Informanten vor Enttarnung zu schützen und weiter abschöpfen zu können – anstatt sie unverzüglich abzuschalten. So auch im NSU-Komplex geschehen. Das ist strafbare Strafvereitelung im Amt sowie Unterstützung und Beihilfe zu Straftaten – doch die Verantwortlichen sind dafür nicht zur Rechenschaft gezogen worden, selbst wenn dadurch unbeteiligte Personen geschädigt wurden. Im Bericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses im Thüringer Landtag wird folgerichtig der „Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens“ bei der Suche nach dem flüchtigen NSU-Trio geäußert. Zusammenfassend muss man feststellen: Der Verfassungsschutz hat nicht nur im NSU-Komplex, sondern weit darüber hinaus rechtsextreme Szenen und Parteien, die er lediglich beobachten soll, über seine bezahlten Spitzel mitfinanziert, rassistisch geprägt, geschützt und gestärkt. Über sein weitgehend kriminelles und letztlich unkontrollierbares V-Leute-System verstrickte er sich heillos in kriminelle, ja mörderische Machenschaften. Auf diese Weise ist er selbst Teil des Nazi-Problems geworden, jedenfalls konnte er kaum etwas zu dessen Lösung oder Bekämpfung beitragen. Trotz der hohen Zahl an V-Leuten im Nazi-Spektrum haben sich die Erkenntnisse des Verfassungsschutzes kaum gesteigert, jedenfalls hat er als „Frühwarnsystem“, das er ja sein soll und sein will, über Jahrzehnte hinweg system- und ideologiebedingt grandios versagt, hat dabei nicht selten Verfassung und Demokratie mehr geschadet als genützt. Insofern ist, trotz aller Bemühungen und gewisser Reformversuche, kaum daran zu glauben, dass es in absehbarer Zeit eine umfassende und realitätsnahe Aufarbeitung des NSU-Komplexes geben wird. Im Zusammenhang mit den NSU-Untersuchungsausschüssen in Bundestag und Landtagen muss man leider feststellen: Seit der Selbstenttarnung des NSU waren „Verfassungsschützer“ immer wieder damit beschäftigt, die Spuren ihres Versagens, ihrer ideologischen Verblendung und V-Leute-Verflechtungen in das NSU-Umfeld zu verdunkeln, zu schreddern, zu vernichten. Auch die Behinderungen der polizeilichen Ermittlungen im Fall des V-Mann-Führers Andreas Temme, der am Tatort eines NSU-Mordes anwesend war, sind symptomatisch für diese Abschottung und das amtliche Verdunkelungssystem. Die geheimen NSU-Akten sollen noch auf Jahrzehnte hinaus gesperrt bleiben, was eine baldige effiziente politische Aufarbeitung hintertreibt.
„Der Verfassungsschutz muss keineswegs als Geheimdienst ausgestaltet sein“
Wie könnte ein besserer Verfassungsschutz aussehen?
Leider geht die Entwicklung in eine vollkommen andere Richtung: Statt ernsthafte Konsequenzen aus seinen Skandalen und Desastern zu ziehen, wird der Verfassungsschutz – geschichtsvergessen, muss man sagen – weiter ausgebaut und aufgerüstet. Er darf sich inzwischen sogar ganz legal krimineller V-Leute bedienen und diese im Zweifel gegen Ermittlungen der Polizei abschirmen – ein rechtsstaatswidriger Freibrief für kriminelles Handeln in staatlicher Mission. Außerdem wurden dem Verfassungsschutz weitere Kompetenzen zur Überwachung der Online-Kommunikation eingeräumt – darunter auch die heimliche Einschleusung so genannter Staatstrojaner. Und er darf inzwischen auch in einem neu kreierten, schwer eingrenzbaren „Phänomenbereich“ beobachtend tätig werden: nämlich in Fällen mutmaßlich „verfassungsschutzrelevanter Delegitimierung des Staates“, was immer darunter zu verstehen ist. Das alles bedeutet: Letztlich geht der Verfassungsschutz mitsamt seinem unkontrollierbaren und weitgehend kriminellen V-Leute-System aus seinen Desastern gestärkt hervor. Grundlegend wird sich an dieser Misere nur dann etwas ändern, wenn die Verfassungsschutzbehörden als intransparente, kontrollresistente und demokratieschädigende Inlandsgeheimdienste sozialverträglich aufgelöst werden: Ihnen sollte also zumindest die Lizenz zur Gesinnungskontrolle, zum Führen von V-Leuten und zum Infiltrieren politischer Szenen und Gruppen prinzipiell versagt werden – möglicherweise mit Ausnahme der Spionage-Abwehr, die aber auch Sache des polizeilichen Staatsschutzes ist. Dieser Forderung namhafter Bürgerrechtsorganisationen steht nicht etwa das Grundgesetz entgegen und auch keine Landesverfassung. Denn danach muss der Verfassungsschutz keineswegs als Geheimdienst mit nachrichtendienstlichen Mitteln ausgestaltet sein. Gut ausgestattete, unabhängige und öffentlich kontrollierbare Dokumentations- und Forschungszentren würden etwa Gefährdung von Demokratie, Verfassung oder Minderheiten, würden Rassismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit oder andere Gefährdungen ohne gefährliche Methoden und ideologische Scheuklappen erforschen können. Dafür mit weit besseren diagnostisch-analytischen Fähigkeiten. Über die gewonnenen Erkenntnisse könnten dann Regierungen und Öffentlichkeit offen informiert und aufgeklärt werden, um wirksame Präventionsmaßnahmen zur Gefahrenabwehr und Demokratieförderung in die Wege zu leiten. Alles andere ist Sache von Politik und Zivilgesellschaft – im Fall von konkreten Gefahren, Gewaltorientierung und strafbaren Handlungen ist dies ohnehin Sache von Polizei und Justiz, und das unter weit strengeren rechtsstaatlichen Vorgaben und Regeln als sie für den Verfassungsschutzgelten.
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Intro – Wer bewacht die Wächter?
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„Man muss gesetzliche Möglichkeiten schaffen, mit Extremisten umzugehen“
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Missratenes Kind des Kalten Krieges
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Teil 3: Leitartikel – Viele Menschen misstrauen der Polizei – aus guten Gründen!
„Polizeibeamte kommunizieren in der Regel in einem Herrschaftskontext“
Teil 3: Interview – Kriminologe Rafael Behr über die kritische Aufarbeitung von Polizeiarbeit
Vertrauen in die Polizei
Teil 3: Lokale Initiativen – Projekt EQAL erforscht das Verhältnis von Stadtgesellschaft und Polizei
Menschenrecht gegen Polizeikontrolle
Die Allianz gegen Racial Profiling – Europa-Vorbild: Schweiz
Der Beverly Hüls Cop
Warum Gewaltenteilung, wenn es nur eine Gewalt braucht? – Glosse
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 1: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 2: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
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Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 1: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 2: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
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Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 1: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 2: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus
„Entweder flüchten oder sich anpassen“
Teil 3: Interview – Klimaphysiker Thomas Frölicher über ozeanisches Leben im Klimawandel
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Teil 1: Interview – Publizist Tanjev Schultz über ethische Aspekte der Berichterstattung über Kriminalfälle
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Teil 2: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik
„Eltern haben das Gefühl, sie müssten Buddhas werden“
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Teil 1: Interview – Biologin Katrin Böhning-Gaese über Biodiversität, Wildtiere und Naturschutz
„Ernährungsweisen verändern, ohne Zwang“
Teil 2: Interview – Tierethikerin Friederike Schmitz über vegane Ernährung