Verlieren wir den Glauben an Gott, bricht die Welt zusammen. Der Schriftsteller Jean Paul schilderte dieses apokalyptische Szenario im Jahr 1796 auf so bedrückende Weise, dass sich heutige Endzeit-Computerspiele dagegen wie Gutenachtgeschichten von Disney ausnehmen. Ihm grauste vor einem sozialen Bedeutungsverlust von Religion, vor sozialer Kälte und fundamentaler Vereinsamung als Folgen. Sind wir heute genau dort angekommen?
An der Oberfläche erscheint Deutschland säkular, Staat und Kirche weitgehend getrennt, metaphysische Fragen in den Hobbybereich verschoben, ein Leben ohne kirchlichen Segen akzeptabel. Mehr noch: die Abkehr von religiöser Sinnstiftung fungiert heute als einer der wichtigsten Bausteine gesellschaftlicher Identität. „Religion nein danke“ als kleinster gemeinsamer Nenner all derer, die sich als aufgeklärt und modern verstehen möchten.
Und so schaut man dann gern mit einer gewissen geduldigen Nachsicht auf die gelebte Gläubigkeit mancher Mitmenschen. Doch diese Geduld kommt schnell an ihre Grenzen: Ob Karikaturen Mohammeds oder der Papst mit fäkalienbeschmierter Soutane, wer bei solchen Darstellungen verletzte Gefühle anmeldet, sollte sich doch bitte in einer Erdhöhle vergraben. Es ist wie mit der Gleichberechtigung der Frau: seitdem sie dazu dient, sich gegen Zugezogene abzugrenzen, ist die weibliche Emanzipation plötzlich des Deutschen höchstes Gut. Seitdem Religiosität am Kopftuch erkennbar ist, sind wir alle religionskritischer denn je. Wo einst die Religion ein Gemeinschaftsgefühl stiftete, ist es heute der Mainstream-Atheismus, der ein „wir“ und ein „die“ bestimmen hilft.
Deshalb wäre es naiv, Glauben oder Unglauben für eine rein private Entscheidung zu halten – man verliert sowohl globale Prozesse als auch Entwicklungen in nächster Nachbarschaft aus dem Blick. Über Jahrzehnte hat die Säkularisierungstheorie Religiosität und Modernität für unvereinbar erklärt und dabei nicht über den west- und mitteleuropäischen Tellerrand hinausgeschaut. Weltweit nimmt die Wirkung von Religion zu, aber Deutschland ist religionsblind: die These von der Rückständigkeit religiöser Lebensformen erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl in einem Land, das kontinuierlich nach der eigenen Identität sucht. Dass Religion hingegen als Motor der Modernisierung wirkt, wie es der Pfingstbewegung in Lateinamerika zugeschrieben wird, so eine Idee ist uns fremd. Selbst die Soziologie brauchte lange Zeit um zu erkennen, dass derselbe Mensch sowohl säkular als auch religiös sein kann, in getrennten Bereichen des Geistes, und dabei fähig ist, rational in der Gesellschaft zu funktionieren.
Akzeptiert man diesen Gedanken, nimmt es nicht Wunder, dass die etablierten Kirchen noch immer eine große politische und wirtschaftliche Macht innehaben. Atheistische Verbände argumentieren gegen Privilegien der christlichen Kirchen, gegen historisch überkommene „Kartellstrukturen“ und Lobbyismus, von der überproportionalen Vertretung der Kirchen in fachlichen Gremien wie Ethikräten, Rundfunkräten, Jugendräten, über die Bezuschussung von Kirchentagen, bis hin zu steuerlichen Vergünstigungen. Ob es nun um nicht-religiöse Weltanschauungen oder um für Deutschland neue Religionsgemeinschaften geht: die strukturelle Ungleichbehandlung behindert den gesellschaftlichen Zugang und produziert Ausschlüsse und Diskriminierung, sprich: Konfliktpotential.
Religion ist da, sie lässt sich nicht kleinreden und auch nicht ins Private abschieben. Der Staat muss die Vielfalt religiöser Überzeugungen achten und darf Religionen sowie Weltanschauungsgemeinschaften nicht von der gleichberechtigten Teilhabe an der Gestaltung der Gesellschaft ausschließen. Wer auf unsere Verfassung, auf Religionsfreiheit und Pluralität pocht, muss diese auch ertragen lernen. Religiosität mit Rückständigkeit gleichzusetzen, ist von einem ehedem aufklärerischen Impuls zu einem banalen Volksglauben geworden. Wo einst die Kirche stabilisierend wirkte, leistet dies heute das Festhalten an einem Gefühl eigener Überlegenheit. Doch unsere „Moderne“ bedeutet nicht, dass Gott tot ist – nur dass wir die Wahl haben zwischen vielen Göttern - oder keinem.
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