trailer: Herr Dörre, Sie sagten kürzlich in einem Interview, die soziale Ungerechtigkeit habe obszöne Ausmaße erreicht. Selbst Kapitalisten müssten das als dysfunktional erkennen. Was macht das mit der Gesellschaft?
Klaus Dörre: Das Interessante ist ja, dass im Grunde alle um diese Ungleichheiten und ihr Ausmaß wissen. In unseren Befragungen beispielsweise sind das um die 90 Prozent der repräsentativ Befragten, die sagen, dass der gesellschaftliche Reichtum eigentlich gerechter verteilt werden könnte. Aber das Interessante ist, dass das nicht zum Triggerpunkt wird, um die Kategorie des Kollegen Steffen Mau zu nehmen. Das heißt, man weiß es, aber es ist nichts, was die Gesellschaft erregt. Wenn man so will, sondern es ist eingeschliffen und man nimmt das hin. Man schüttelt den Kopf. Ich habe diese Bemerkung gemacht, bezogen auf den wachsenden Abstand der Einkommen von Führungskräften, Topmanagern in DAX-Unternehmen auf der einen Seite und ihren Belegschaften auf der anderen Seite. Um ein Beispiel zu nennen: Der ehemalige CEO der Linde-Group. Das ist ja gewissermaßen die Perle des deutschen DAX gewesen, ein Vorzeigeunternehmen hat mit einem eigentlich kleineren US-amerikanischen Unternehmen fusioniert. Und der CEO dieses neuen Unternehmens der Linde Group wurde Stephen F. Angel. Er verdient das 246-fache des Durchschnitts der eigentlich sehr gut verdienenden Linde-Belegschaft. Das ist durch Leistung überhaupt nicht zu rechtfertigen. Welche Leistung soll 246 mal wertvoller sein als die dieser hochqualifizierten Linde-Ingenieure? Als ich dort auf der Betriebsräte-Vollversammlung referiert habe, habe ich das auch noch mal aufgerufen. Aber – wie gesagt – auch die Belegschaft verdient nicht schlecht. Deshalb nimmt man das irgendwo mit einem gewissen Unverständnis und Schulterzucken hin. Das ist nur ein Beispiel für Managergehälter und Belegschaften. Da ist etwas völlig aus dem Ruder geraten. Da ist eine winzige Gruppe von Vermögenden, die ihr Vermögen während der Pandemie um das Zigfache erweitert hat. Und die Hälfte der Menschheit hat sozusagen verloren. Die Schere ist immer weiter auseinander gegangen.
„Eine winzige Gruppe von Vermögenden, die ihr Vermögen während der Pandemie um das Zigfache erweitert hat“
Welche Regularien könnten dagegen helfen?
Natürlich könnte man vorher ansetzen und versuchen, beispielsweise Managergehälter zu regulieren und zu deckeln. Das wäre möglich. Dann kommt immer das Argument „Dann gehen sie ins Ausland“. Ich würde sagen: „The proof of the pudding is in the eating.“ [engl., sinngemäß: Probieren geht über studieren; die Red.] Aber jeder höhere Manager ist auch mal in China gewesen oder in den USA. Ich bin nicht sicher, ob die alle flüchten würden. Aber es kann nur eine Maßnahme sein, Managergehälter zu deckeln, denn die großen Vermögen würden trotzdem entstehen.
„Diejenigen, die wenig verdienen, haben zu Recht den Eindruck, dass sie nur noch leben, um zu arbeiten“
Die Mittelschicht scheint hingegen ärmer zu werden. Beispiel Riester-Rente: Menschen mit wenig Einkommen wurden ermuntert, monatlich zu „riestern“ – um später festzustellen, dass sie anderenfalls staatliche Zuschüsse zur Rente bekommen hätten. Sie haben quasi für den Staat gespart. Da kocht doch Wut hoch.
Da ist etwas dran! Das Armutsrisiko verschiebt sich in die Bereiche mit den kleinen Portemonnaies. Das sind aber durchaus Menschen mit einer Vollzeitbeschäftigung, einer 40-, 38- oder 35-Stunden-Woche. Wir haben in Deutschland tatsächlich eine gespaltene Entwicklung. Seit 2013 steigt die Lohnquote wieder, jedenfalls bis zur Inflation ist sie wieder gestiegen. Das heißt, die Anteile von Arbeitnehmereinkommen am Bruttoinlandsprodukt haben wieder zugenommen. Aber das galt nur für die obere Hälfte der Lohn-Bezieherinnen und -Bezieher, für die unteren nicht. Die haben, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, immer weiter Anteile verloren. Und das mit dem Riestern ist schlicht Betrug. Aber es geht ja noch weiter. Diejenigen, die jetzt schon relativ wenig verdienen, müssen einen immer größeren Teil ihres Einkommens aufwenden, um das zum Leben Notwendige überhaupt noch bestreiten zu können. Und der Anteil, der übrig bleibt für „das Schöne im Leben“, wird immer kleiner. Das führt natürlich dazu, dass sie zu Recht den Eindruck haben, dass sie nur noch leben, um zu arbeiten. Das hat auch zu dieser enormen Streikbereitschaft geführt, die aber – im Unterschied zu Österreich – trotz der harten Arbeitskämpfe und vergleichsweise hohen Tarifabschlüsse nicht dazu geführt hat, dass die Teuerung ausgeglichen werden konnte. Das heißt, wir haben seit Jahren Reallohnverluste bei großen Teilen der Beschäftigten. Das kocht sehr viel mehr als der Abstand zu den Superreichen.
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