Duisburg fehlt an diesem Montagabend nicht viel für einen Arthouse-Film: Regen, Kälte, Pfützen, in denen sich das Grau der Wolken und der Häuser widerspiegelt. Die Straßen sind leer, die wenigen Menschen, die noch unterwegs sind, hasten von Bushaltestellen zu Hauseingängen. Wäre das hier ein Western, dann würde der Wind einen rollenden Steppenläufer über den Asphalt jagen, während herrenlose Fensterläden taktlos klapperten. Einsamkeit ist das vornehmliche Gefühl in dieser detailgetreuen Ruhrgebiets-Kulisse und an wenigen Tagen war der Ruf der Couch so verführerisch wie heute.
Ganz anders dagegen sieht es im Duisburger Djäzz aus: Zwar ist die Schar der Gäste überschaubar – etwa zehn Menschen fanden den Weg vom Sofa, aus Küchen und Betten, von Fernsehern weg hierher – doch die Trostlosigkeit der Welt da draußen ist vergessen an diesem warmen, fast stickigen Ort. Für Außenstehende könnten die nächsten zweieinhalb Stunden wie ein konspiratives Treffen einer Gruppe von Underdogs aussehen, wäre da nicht die Einmaligkeit der Begegnung. Auf den ersten Blick gibt es wenig, was diese Zehn gemeinsam haben, keine Gemeinsamkeiten, kein offensichtliches Erkennungszeichen. Umso überraschender mag die Wahl der Gallionsfigur fallen, die diese Zehn heute Abend in das Djäzz lockt.
Denice Bourbon ist in der Dunkelheit der Location und in Anbetracht ihrer Gäste weder Underdog noch Diva: sie ist bunt, glamourös, klassisch und dabei ganz nah. Die halbe Stunde Verspätung, mit der sie auf der Bühne erscheint, ist keineswegs einer selbstverliebten Haltung zuzuschreiben, sondern hat sich einfach so ergeben. Ursprünglich aus Finnland, verbrachte Bourbon ihre Kindheit in Schweden. Nun lebt sie als Künstlerin, DJane und Burlesque-Tänzerin schon seit einer Weile in Wien, schreibt dort für das österreichische feministische Magazin an.schläge und kommentiert ihr Leben in der Kolumne „Lesbennest“. Bourbons 37 Lebensjahre haben bereits für ihre Biographie „Cheers! Stories of a Fabulous Queer Femme in Action“ hergehalten und wer sie an diesem Abend erlebt, der ahnt: Es ist noch lange nicht Schluss.
Die Themen ihres Werks sind zahlreich, frech, bunt, verwegen, aber nicht alles, was sie vorträgt, hat mit dem Merkmal „queer“ zu tun. Neben einem Ausflug in ein Ökocamp oder der Bewertung der eigenen Performance „when going south“, schildert Bourbon auch Erfahrungen oder Gedanken, die ein jeder schon einmal machte oder dachte. Dennoch ist sie so selbstverständlich wie ein Einhorn in der U-Bahn. A propos Einhorn. Das Abweichen von der Norm ist natürlich Thema an diesem Abend. Warum man denn auch bitte normal sein wolle, was denn an „Jeans und T-Shirt“ so erstrebenswert sei? Wieso geben wir uns alle – oder zumindest so viele von uns – so große Mühe, der Norm zu entsprechen? Wieso vertagen wir unsere Freizeit, wieso sehnen wir uns nach der Rente, um dann eine Gruppenreise auf die kanarischen Inseln mit 20 Unbekannten anzutreten? Wenn nur erst, wenn nur erst.
Sicher, Bourbon kann ein Lied davon singen, nicht in bestehende Muster zu passen: Selbst die Randgruppen der Gesellschaft, die Outlaws, wussten nichts mit ihr anzufangen. Den Punks war sie zu konservativ, den Spießern zu wild, den Lesben zu hetero, für Grunge war sie zu fröhlich, es half nichts, sie war und blieb sie selbst. Auf die Frage nach Denice, antworte ihre Mutter stets: „Oh Denice, she is a dreamer“. So what? Das zu tun, was sie liebt, erscheine ihr als das einzig Richtige, und maximal realistisch. In diesem Moment, in dem Bourbon eine Lanze für die freie Kunst bricht, merkt man, wie ernst es ihr mit dem ist, was sie da sagt. Sie wäre Profi genug, um einfach nur eine Show abzuliefern – stattdessen ist sie echt.
Nach einer etwa halbstündigen Lesung wechselt Bourbon von der Kolumnistin zur Sängerin und umgibt sich mit der Band Me and Jane Doe. Wie „dichter Raureif im Nadelwald“ oder „schweres Frauenparfüm“ klinge diese Musik, schreibt das Djäzz in seiner Vorankündigung und das ist erstaunlich zutreffend. „Kennt Ihr das, wenn man auf einer Party oder im Club ist, schon was getrunken hat und denkt, man tanzt, dabei tritt man nur von einem Bein aufs andere?“, fragt Bourbon in ihrer Anmoderation des berauschenden „We’ll Sway and Call It Dancing“. Dieser ist nur einer von vielen Songs, die begeistern – „on a monday evening!“. Es ist ein schöner, ein gemütlicher Abend. Die Zehn, die kamen, wurden belohnt. Sie könnten alle Underdogs sein, alle ein bisschen verloren und missverstanden, aber nicht hier, in diesem Duisburger Jazzkeller, während es draußen regnet und stürmt.
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