Ella Fitzgeralds Song „Summertime“ besingt die Leichtigkeit, die himmelblaue Tage versprühen, sonnige Morgenstunden, die zum Singen einladen. Es ist das Lieblingslied von Frau Stern. Bei einer Karaoke-Party vor bestens gelaunten, jungen Gesichtern haucht sie Fitzgeralds Verse ins Mikrophon. Traurig und tief in sich versunken. Frau Stern feiert an diesem Abend ihren 90. Geburtstag. Vor Jahrzehnten hat sie ein Konzentrationslager überlebt. Die kerngesunde Kettenraucherin äußert nur einen Wunsch: Sie will selbstbestimmt sterben.
Regisseur Anatol Schuster zeichnet ein tragikomisches Porträt dieser titelgebenden Figur, gespielt von Ahuva Sommerfeld. Ihre Entscheidung, ihrem Leben ein Ende zu setzen, scheitert jedoch an der Ausführung. Regisseur Schuster zeigt, wie sie auf den Schienengleisen krabbelt, sich hinlegt. Bis ihr schließlich ein Passant aufhilft. Auch ihr Arzt winkt nach Anfrage natürlich ab. Was soll denn das für ein Bild ergeben, wenn ein deutscher Arzt einer Jüdin beim Selbstmord hilft, fragt er zurück.
So tragen diese Suizidpläne makabre Züge, auch als Frau Stern schließlich in einer Kneipe nach einer Knarre fragt. Irgendwann krallt sich die Dame zufällig tatsächlich eine Waffe, die sie fortan ständig griffbereit hält. Die Berlinerin schwankt hin und her, zwischen Selbstmordplänen und Lebenskunst. Denn ihre Enkelin zieht sie in den pulsierenden Großstadtsog, dort, wo die jungen Menschen tanzen, feiern und lieben.
„Diese jungen Menschen haben keine Schuld“, sagt die 90-Jährige beim einem TV-Auftritt, als es um die Shoah geht. „Deswegen bin ich mit vielen von ihnen befreundet.“ Nur mit der älteren deutschen Generation möchte Frau Stern nichts zu tun haben, darauf beharrt sie trotzig. Daher hängt sie etwa zwischen ihrer jungen Enkelin (Kara Schröder) und einem Freund in den Kissen. Die 90-Jährige lässt einen Joint herum gehen – Marihuana ist gut für die Durchblutung, erklärt sie weise an anderer Stelle. Sie nimmt einen tiefen Zug, versucht, den schwulen Freund ihrer Enkelin zu küssen. Doch der winkt ab. „Du steht auf Männer?“ Er nickt. Sie: „Ich auch“. Dass „Frau Stern“ so leichtfüßig von erotischen Begierden im Alter erzählt, liegt an der Leistung von Ahuva Sommerfeld.
Authentisch ist in diesem Fall keine anbiedernde Charakterisierung. Denn Sommerfeld war keine Schauspielerin, als die Klappe für den Film fiel, wie Produzent Adrian Campean im Filmstudio erzählt: „Sie stand das erste Mal vor der Kamera und entwickelte sich während der Dreharbeiten.“ Rund um ihre Person entstand nach einer Bekanntschaft die Idee des Projekts. Nach dem ersten Skript-Entwurf winkte Sommerfeld ab, sie erkannte sich nicht wieder. Bis es passte. Dazu gehörte auch ihr großzügiger Nikotinkonsum, und zwar vor wie hinter der Kamera, wie Campean scherzte: „Zwischendurch meinte sie, dass sie jetzt mal für sich rauchen müsse.“
Das Ergebnis auf der Leinwand spiegelt trotzdem eine Mischung aus Realität und Fiktion wieder, so Campean: „Sie hat nicht selbst das KZ überlebt, sondern ihr Mann.“ Die Premiere von „Frau Stern“ hat die 82-Jährige nicht mehr erlebt. Nach dem Ende der Dreharbeiten verstarb Ahuva Sommerfeld. Doch sie hat das filmische Denkmal einer Frau hinterlassen, die noch im höchsten Alter um junggebliebene Lebenslust ringt – den Sterbewünschen zum Trotz. Fast wie in dem Fitzgerald-Song, in dem es am Ende heißt: „An einem dieser Morgen, wirst du singend aufsteigen. Dann wirst du deine Flügel ausbreiten und zum Himmel hinauffliegen. Aber bis zu diesem Morgen gibt es nichts, was dir schaden kann.“
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Hagener Bühne für den Filmnachwuchs
„Eat My Shorts“ in der Stadthalle Hagen – Foyer 11/24
Kunst des Nicht-Wegschneidens
„Anna Zeit Land“ im Filmforum – Foyer 10/24
Restitution von Kolonialraubkunst
„Dahomey“ und „The Story of Ne Kuko“ im Filmforum – Foyer 10/24
Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24
Lichtspiele mit Charme
Eröffnung der Ausstellung „Glückauf – Film ab!“ im Ruhr-Museum – Foyer 07/24
Der Tod, der uns verbindet
NRW-Premiere von Eva Trobischs „Ivo“ – Foyer 06/24
Bären für NRW-Filme?
21. NRW-Empfang im Rahmen der 74. Berlinale – Foyer 02/24
Sieben Spitzenprämien-Gewinner
Kinoprogrammpreis-Verleihung in der Wolkenburg – Foyer 11/23
Verfilmung eines Bestsellerromans
„Die Mittagsfrau“ im Casablanca Bochum – Foyer 10/23
Mysteriöses auf schottischem Landsitz
„Der Pfau“ im Cinedom – Foyer 03/23
Alle Farben der Welt
37. Teddy-Award-Verleihung bei der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Drei NRW-Filme im Berlinale-Wettbewerb
20. NRW-Empfang im Rahmen der 73. Berlinale – Foyer 02/23
Hochwertiges deutsches Filmschaffen
Verleihung des Preises der Deutschen Filmkritik 2022 auf der Berlinale – Foyer 02/23
Endlich wieder gemeinsam feiern
Sommer-Branchentreff 2022 in der Wolkenburg – Foyer 06/22
Industrie im Wandel
„We Are All Detroit“ im Filmhaus – Foyer 05/22
Die Besten im Westen
Kinoprogrammpreisverleihung 2021 in der Wolkenburg – Foyer 10/21
Entbehrungen, Rückschläge, Optimismus
„Gleis 11“ in der Lichtburg Essen – Foyer 01/21
Das Publikum entführen
„Enfant terrible“ in der Lichtburg Essen – Foyer 10/20
Endlich geht es wieder los!
„Undine“ im Odeon – Foyer 06/20
Königinnen der Herzen
„Das Wunder von Taipeh“ im Filmforum – Foyer 02/20
Ein Star mit großem Einfühlungsvermögen – Kinoprogrammpreise in Köln verliehen
Zwingli, ein europäischer Sozialreformer aus der Schweiz
NRW-Premiere von „Zwingli – Der Reformator“ am 22.10. in der Lichtburg, Essen – Foyer 10/19
Befehle aus der Hauptstadt
Premiere: „Deutschstunde“ mit Stars wie Tobias Moretti oder Ulrich Noethen am 1.10. in der Lichtburg Essen – Foyer 10/19
Die PiS-Partei sitzt am Familientisch
KURZ.FILM.TOUR 2019 vom 5. bis 11. September in der Lichtburg Oberhausen – Foyer 09/19
„Ohne Gerechtigkeit keine Schönheit“
„Machuca, mein Freund“ mit Zeitzeugengespräch in Bochum – Foyer 09/19