Die Nachricht platzt ausgerechnet in diesen Moment hinein, als sie beim Geburtstagsfest des Malers Max Ludwig Nansen (Tobias Moretti) gemeinsam singen: seine Frau Gitte (Johana Wokalek) und der Polizeiwachtmeister Jens Ole Jepsen (Ulrich Noethen) stimmen ein Lied an. So wie früher, lange bevor der Beamte Jepsen seinem Jugendfreund ein Berufsverbot überbrachte, dessen Einhaltung er selbst überwacht. Kurz ist die Stimmung ein wenig aufgelockert. Bis nun der Postbote hineinstürmt und die Botschaft überbringt, dass Nansens Bilder konfisziert werden.
Es ist eine der Schlüsselszenen aus Siegfried Lenz' Weltbestseller „Deutschstunde“, die Regisseur Christian Schwochow („Paula“) als Kammerspiel verdichtet. Dass dieser Schlagabtausch zwischen dem regimetreuen Polizisten und dem freigeistigen Künstler die knapp zweistündige Literaturadaption trägt, liegt an den glänzend aufgelegten Hauptdarstellern. Zur Premiere in der Lichtburg schlenderte die Starbesetzung über den roten Teppich: Ulrich Noethen, Tobias Moretti oder Johanna Wokalek, die im Film Gitte, die Frau des Malers, spielt.
Christian Schwochow hob nach der Vorstellung die Bedeutung der beiden Hauptdarsteller hervor: „Für mich war schnell klar, es müssen zwei Naturgewalten sein, die da aufeinandertreffen.“ Seine Mutter, Heide Schwochow, hat rund drei Jahre am Drehbuch geschrieben, um die über 400 Seiten dicke Vorlage weitestgehend auf den Konflikt zu reduzieren, wie sie erklärte: „Die Geschichte hat sich immer mehr verdichtet. Bis dieser Junge blieb, der zwischen diesen beiden Männern aufgerieben wird.“ Dieser Junge ist Siggi Jepsen, Sohn des Polizisten und Neffe des Malers. In Siegfried Lenz' Roman wird der jugendliche Jepsen in einer Hamburger Besserungsanstalt zu einem Aufsatz verdonnert. Das Thema: „Die Freuden der Pflichten“. Und das verleitet den Ich-Erzähler dazu, in der Erinnerung zu weben, tief zurück in die Kindheit, als die Befehle aus der Hauptstadt in der nördlichen Provinz moralische Fragen über die Pflicht abringen. In der Verfilmung bleibt diese Erinnerungsklammer, Levi Eisenblätter spielt das Kind, Tom Gronau den jugendlichen Jepsen.
Lenz veröffentlichte seinen Erfolgsroman 1968, einerseits als Abarbeitung an der faschistischen Herrschaft, die ihre Kontinuität in der frühen Bundesrepublik fand. Andererseits als Auseinandersetzung mit dem autoritären Charakter, den Adorno damals zeitgleich untersuchte, und der alle familiären Bindungen zerrieb. Genau dieses Dilemma dramatisiert Schwochow in seiner Verfilmung als Moralstunde, oft eingetaucht in düsteren blaugrauen Farbtönen. Während der Wind pfeift und Meereswellen an die Klippen peitschen. In dieser totalitären Eiseskälte brechen immer wieder die Wortgefechte aus. Noethens Polizeiwachtmeister weist als Uniform gewordene Banalität des Bösen jede Verantwortung von sich. „Ich tu nur meine Pflicht!“. Und der Maler brüllt zurück: „Manchmal muss man auch was tun, was gegen die Pflicht ist!“ Beide versuchen, den jungen Siggi für sich zu instrumentalisieren – besonders sein Vater, um die Kunstwerke einzusacken. „Sie sagen, die Bilder sind krank“, argumentiert der Pflichtbewusste. „Entartete Kunst“ und andere völkische Vokabeln purzeln ja bekanntlich so manchen Deutschbewussten wieder über die Lippen. Weswegen es für Schwochow schnell feststand, mit seiner Lenz-Verfilmung auch ein Statement gegen die zunehmende Rechtsverschiebung des Diskurses abzuliefern: „Wir müssen es in der Kunst jetzt besonders laut und deutlich tun!“
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