Es ist 1963 als Osman in Istanbul in den Zug steigt. Im Gepäck der Proviant für 72 Stunden Zugfahrt. Nach drei Tagen erreicht er Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs. Dort beginnt er ein neues Leben. In diesen Jahren bietet sich wohl die letzte Möglichkeit, sie zu treffen, Osman und all die anderen „Gastarbeiter*innen“, die in den 1960er Jahren im Zuge deutscher Anwerbeabkommen hierher kamen, um in der Industrie zu arbeiten. Der Regisseur Çağdaş Eren Yüksel hat diese Gelegenheit mit seinem Dokumentarfilm „Gleis 11“ genutzt.
Yüksels Produktionsfirma Cocktailfilms und die Lichtburg Essen haben alles dafür getan, die digitale Premiere so feierlich und interaktiv wie möglich zu gestalten. Schon Tage vorher konnte man online Tickets kaufen. Mit einem Passwort erhält man Zugang zu einem Stream. Ab 45 Minuten vor Beginn beginnt der Livestream und zeigt den großen Saal der Lichtburg, in dem ganz vereinzelt Gäste sitzen und ein Kamerateam herumwuselt. Im Chat des Livestreams berät man sich derweil über Snacks und Technikprobleme und bestellt auf Deutsch und Türkisch Grüße aus Möchengladbach, Hamburg, Istanbul und Berlin. Über 1000 Zuschauer*innen sind mittlerweile dabei. Um Punkt acht Uhr betritt Regisseur Yüksel die Bühne der Lichtburg und begrüßt das Publikum. Nach einer Ansprache der Staatssekretärinfür Integration des Landes NRW Serap Güler, deren Ministerium den Film gefördert hat, öffnet sich der Vorhang und der Film beginnt.
Yüksel erzählt den Film konsequent aus seiner Perspektive. Als Enkel türkischer Gastarbeiter*innen porträtiert er seine Großelterngeneration und hebt die Protagonist*innen, die in der öffentlichen Darstellung so oft lediglich in einer anonymisierten und homogenisierten Masse erschienen, als Individuen hervor. Die Protagonist*innen, das sind Nezihat, Bartolomeo, Zeynep, Osman, Marina und das Ehepaar Ayse und Esret. Wir begegnen ihnen in ruhigen Einstellungen in ihrem Alltag und stets auf Augenhöhe. Beim Spaziergang im Regen, in der Eisdiele, am Küchentisch, vor dem Fernseher. Und dann wird erzählt. Auf Deutsch und auf Türkisch. So werden Erinnerungen lebendig, ganz ohne dass Filmaufnahmen von früher gezeigt werden.
Geschichten, die selten erzählt werden
Familie, Freundschaft und Nachbarschaft sind die Werte, die all die erzählten Geschichten ausmachen. Und der Optimismus der Protagonist*innen, der trotz der Entbehrungen und Rückschläge aus ihnen strahlt. Dieser Film macht sie stolz, das merkt man. Für Bartolomeo ist er ein Zeugnis, dass er gelebt hat. Es werden vor allem glückliche Geschichten erzählt, vom ersten Lohn, von der Geburt der eigenen Kinder, vom gemeinsamen Essen. Doch auch die vom Schmerz des Heimwehs und der Zerrissenheit zwischen alter und der neuer Heimat. In einer Szene sitzt Ayse weinend auf dem Sofa und fragt sich, warum sie sich damals für den türkischen Nähkurs und nicht für den Deutschkurs entschieden hat. Die Abhängigkeit von anderen habe sie so ihr Leben lang begleitet. Erinnerungen an Ressentiments gegen Gastarbeiter*innen klingen immer nur leise an. „In der Türkei bin ich Deutscher und hier kannst du zehn Ausweise haben und bist immer noch Ausländer“ erzählt Osman. Dabei lacht er. All das was er sich hier aufgebaut, was er hier erlebt hat, lässt er sich von niemandem nehmen.
Dieser Film ist sein Herzensprojekt, das betont Yüksel nach Ende des Films immer wieder. Umso schwieriger sei es gewesen Produzent*innen für den Film zu finden. Auch wenn jede*r vierte Deutsche Einwanderungsgeschichte habe, fänden sich diese Geschichten immer noch viel zu selten in Geschichtsbüchern und auf Kinoleinwänden. Dies soll dieser Film endlich ändern.
Der Film feierte am 28. Januar seinen digitalen Kinostart und ist als Stream auf cocktailfilms.de/gleis11 abrufbar.
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