Der Kalte Krieg ist endgültig vorbei. Der Wehrdienst wurde im Juli vergangenen Jahres ausgesetzt. Dabei ist dieses Wort irreführend. Die Vokabel „ausgesetzt“ wurde eingesetzt, um all die alten kalten Krieger im Parlament nicht zu großen Schmerzen auszusetzen. „Ausgesetzt“ heißt in Wirklichkeit „abgeschafft“. Und mit dem Wehrdienst ging auch sein friedlicher Bruder, der Zivildienst, nach gut 40 arbeitsreichen Jahren in Rente. Seit bald einem Jahr kommt dieses Land also ohne dienstverpflichtete junge Männer aus. Militärisch hat das keine großen Auswirkungen gehabt. Der Russe ist – zumindest als Besatzungsmacht – nicht auf dem Kurfürstendamm aufgetaucht. Aber was geschah in den letzten 11 Monaten mit unserem Sozialsystem? Brach es zusammen, wie manche Beobachter befürchteten?
Der Bundesfreiwilligendienst sollte als Ersatz-Ersatzdienst die Lücke schließen, die das Ende des Zivildienstes schuf. In den ersten Monaten meldeten sich erschreckend wenige Menschen für den Dienst am friedlichen Vaterland. Der Bufdi, so wurde der Bundesfreiwilligendienstler vom Volksmund neckisch genannt, war zunächst nicht populär. Aber dann folgte ein Boom, der sogar die Verantwortlichen überraschte. Alle 33.325 Plätze, die der Bund bereitgestellt hatte, sind inzwischen besetzt. Es gibt mittlerweile deutlich mehr Bewerber als Stellen. In Dortmund arbeiten zurzeit 243 Freiwillige, in Bochum 145 und in Essen sogar 279. Dabei klingt das Angebot an Frauen und Männer jeden Alters, die ihre Vollzeitschulpflicht absolviert haben, zunächst nicht verlockend. Bis zu 336 Euro Taschengeld erhält ein Bufdi dafür, dass er täglich acht Stunden Dienst am Gemeinwohl leistet. Dazu kommen Aufwandsentschädigungen und Sachleistungen. Anders als bei dem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) und beim Freiwilligen Ökologischen Jahr (FÖJ), die beide von den Bundesländern organisiert werden, darf der Bufdi durchaus älter als 27 Jahre sein.Zwar sind auch beim Bundesfreiwilligendienst 65 Prozent unter dieser Altersgrenze. Aber der Anteil derer, die schon über mehr Lebenserfahrung verfügen, steigt. Und im Gegensatz zum Zivildienst steht der neue Bundesfreiwilligendienst Frauen wie Männern offen. 47 Prozent sind Frauen, 53 Prozent Männer, so die Auskunft des Bundesamtes für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Köln, das für die Bufdis zuständig ist.
Es könnten doppelt so viele Stellen wie bislang vorhanden besetzt werden
Was bewegt die Menschen, nur ausgestattet mit einem Taschengeld, freiwillig wie eine Vollzeitkraft der Allgemeinheit zu dienen? Wie die jungen Menschen, die sich bislang zum FSJ oder zum FÖJ meldeten, möchten sich viele Interessenten nach der Schule oder der Ausbildung erst einmal ausprobieren und Zeit gewinnen, um sich für den weiteren Lebensweg zu orientieren oder auf einen Studienplatz zu warten. Altenheim, Kindergarten und Krankenhaus werden zur Schule der Nation. Tatsächlich leistete bereits der Zivildienst einen oft unterschätzten Beitrag, unsere Gesellschaft ziviler und sozialer zu machen. Viele junge Männer fanden erst als Zivis einen Zugang zu sozialen Berufen. Ohne den Zivildienst gäbe es kaum so viele Männer, die inzwischen in ehemals typischen Frauenberufen arbeiten.
Aber nicht nur den frischgebackenen Abiturienten zieht es zum Freiwilligendienst. Es gibt inzwischen auch Bufdis im mittleren und auch im fortgeschrittenen Alter. Nach dem Arbeitsleben muss man nicht zwangsläufig wie Loriot in seinem Film „Pappa ante Portas“ mit seiner Gattin Blockflöte lernen, um keine Langeweile aufkommen zu lassen. Viele 65Jährige fühlen sich noch zu jung, um aus dem Arbeitsleben auszusteigen, werden aber durch die aktuelle Gesetzgebung „zwangsentlassen“. Hier kann der Freiwilligendienst eine Lücke schließen und das Ende der Erwerbstätigkeit flexibler gestalten. Auch Hartz IV-Empfänger nutzen mitunter die Chance, durch den Freiwilligendienst einen neuen Zugang zur Arbeitswelt zu bekommen. Sie können Arbeitgeber von ihren Qualitäten durch ihr Engagement überzeugen. Allerdings warntWilfried Theißen vom Paritätischen Landesverband NRW davor, den Bundesfreiwilligendienst als Arbeitsmarktinstrument zu missbrauchen. In einen Reichsarbeitsdienst soll der Bufdi nicht gesteckt werden. Der Kerngedanke des Dienstes, so Theißen, sei die Freiwilligkeit.
Aber vielleicht gibt es noch einen anderen Grund, warum der Bundesfreiwilligendienst inzwischen so populär geworden ist. Schon vor dessen Einführung hinterfragten viele Menschen die aktuelle Trennung zwischen Freizeit und Erwerbszeit. Menschen setzen sich vermehrt für das Gemeinwohl ehrenamtlich ein. Die Gesellschaft hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten zivilisiert. Während die Bundeswehr verstärkt an Schulen für den Dienst an der Waffe Werbung machen muss, um genügend Interessenten für ihre weltweiten Einsätze zu bekommen, sprechen die Verantwortlichen des Bundesfreiwilligendienstes davon, dass bestimmt doppelt so viele Stellen wie bislang vorhanden besetzt werden können. Es ist soweit: Schwerter werden zu Pflugscharen geschmiedet.
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