Von Neuanfängen handelt Erich Wolfgang Korngolds Oper „Die tote Stadt“, die im Juni Premiere in Duisburg feiert. Der britische Dirigent Harry Ogg erzählt im Interview, wie er sich nach sechs Jahren in Deutschland fühlt,wie sich Musikkulturen in England und in Deutschland voneinander unterscheiden und was es bedeutet, eine Oper oder eine Sinfonie zu dirigieren.
trailer: Herr Ogg, Sie haben in Weimar studiert und mit vielen deutschen Orchestern gearbeitet.
Harry Ogg: Ich fühle mich sehr zu Hause in Deutschland. Vor sechs Jahren hierher umzuziehen war die beste Entscheidung meines Lebens. Ich habe zum Beispiel mit der Sprache und der Musikkultur viel Spannendes kennengelernt und kann mir nicht mehr vorstellen, nach England zurückzuziehen. England hat wunderbare Orchester und Opernhäuser, aber gemessen an Deutschland gibt es für mich wenige Arbeitsmöglichkeiten. Ich bin inzwischen hier eingewurzelt.
Sie kommen aus dem sogenannten Land ohne Musik. Englische Musik gibt es in Hülle und Fülle, sie hat aber kein Ansehen, abgesehen von Henry Purcell oder Benjamin Britten. Wie sehen Sie die Musik ihres Herkunftslandes?
In England gibt es zurzeit nicht nur viele tolle Dirigenten wie Simon Rattle oder Jonathan Nott, sondern auch wunderbare Komponisten wie Thomas Adès oder George Benjamin. Auch die Orchester sind auf einem internationalen Niveau. Was es nicht gibt, ist die Tradition staatlich finanzierter Opern oder Orchester. Ein „Land ohne Musik“ ist England nicht. Es gibt zum Beispiel eine unglaubliche Szene für Liebhabermusik, die auch finanziell unterstützt wird. Edward Elgar oder William Walton hatten auch diesen Hintergrund. Es ist eine andere Tradition als die der staatlichen Finanzierung in Deutschland. Ich habe zum Beispiel viel in „Piggot’s Music Camp“ nordwestlich von London gearbeitet – eigentlich ein Bauernhof, wo Laienchöre und -orchester proben. Sie machen alles, bis hin zu Schönbergs „Gurre-Liedern“ oder Wagners „Ring“.
„Ich bin hier eingewurzelt“
Lassen Sie uns noch einmal auf Englands musikalisches Erbe zu sprechen kommen: Da gibt es eine Reihe hier unbekannter Komponisten wie Arnold Bax oder Frederic Delius. Lohnt es sich für Sie, für diese Musik einzutreten?
Ich sehe meine Rolle darin, eine breite Mischung anzubieten. Die kulturellen Verbindungen durch die Musik sind für mich spannend. Ich habe etwa zu den Sinfonien von Johannes Brahms oder zu Wagners Ring einen neuen Bezug, ein neues Verständnis aufgebaut, bin ihnen kulturell nahe gekommen. Als Engländer habe ich mit Edward Elgar oder Frederic Delius wahrscheinlich mehr zu tun als ein Musiker, der in Deutschland geboren ist und hier studiert hat. Das finde ich eine tolle Sache, als Engländer mit einem deutschenOrchester und dessen speziellen Klang Musik eines englischen Komponisten zu machen und meine Geschichte mit einzubringen. Diese Verbindung finde ich unglaublich schön und spannend. Musik ist der tiefsinnigste Ausdruck von Menschen aus einer bestimmten Kultur.
Sie sind jetzt Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein. In ihrer bisherigen Karriere haben Sie viel mit Sinfonieorchestern gearbeitet. Haben Sie Ihren Schwerpunkt verlagert?
Ich hatte von Anfang an den Wunsch, auf beiden Feldern zu arbeiten. Die Erfahrung im einen Bereich beeinflusst den anderen. Die genaue Arbeit, die man für ein Sinfoniekonzert mit dem Orchester leisten muss, die Art zu proben, die Entwicklung des Orchesterklangs bringt viel für die Arbeit in der Oper. Andersherum muss man in der Oper Flexibilität und Verständnis für Stimmen, Text, Geschichte und Dramaturgie haben. Mit dieser Erfahrung hat man im Konzertsaal eine andere Beweglichkeit, man kann eine Sinfonie wie eine Geschichte denken. Das finde ich für beide Bereiche unglaublich positiv. Daher versuche ich, beides zu verbinden.
„Flexibilität für Stimmen, Text, Geschichte und Dramaturgie“
Können Sie als Opernkapellmeister mit einem dichten Terminkalender noch Sinfoniekonzerte dirigieren?
Auf jeden Fall. Die Intendanz unterstützt das. Ich werde in der nächsten Spielzeit mit den Düsseldorfer Symphonikern ein Konzert erarbeiten, außerdem auch mit dem Bruckner-Orchester Linz und Orchestern in Bukarest und Luxemburg.
Sie haben jetzt mit Korngolds „Die tote Stadt“ in Duisburg eine der wegen ihrer klanglichen Differenzierung schwierigsten Opern zu dirigieren. Wie gehen Sie an dieses Stück heran?
Ich finde faszinierend, wie viele Farben und Details es in der Partitur gibt, und fände es schade, wenn die Zuhörer das nicht hören könnten. Für mich ist Transparenz sehr wichtig, durch die man jede Farbe und jedes Detail genießen kann. Ich spiele die Oper gerade viel am Klavier, um die Harmonien und die grundsätzliche Struktur zu verstehen, aber ich beschäftige mich auch mit den Details. Es interessiert mich zum Beispiel, warum Korngold eine komplexe Linie der zweiten Geigen geschrieben hat, die man nicht unbedingt in jeder Aufnahme hört. Warum er diese Stimme erfunden hat? Ich glaube nicht, dass seine Absicht war, sie in einer Klangsuppe untergehen zu lassen. Ich bin sehr neugierig zu erfahren, wie genau man in der „toten Stadt“ jede Stimme hören kann und wie spannend das für die Zuhörer wird.
„Ich bin sehr neugierig, wie man in der ,toten Stadt‘ jede Stimme hören kann“
Wie sehen ihre Aufgaben an der Deutschen Oper am Rhein in der kommenden Spielzeit aus und worauf freuen Sie sich besonders?
Zunächst erwartet mich als Gast ein großes Projekt an der Oper Köln, die Uraufführung von „The Strangers“ von Frank Pesci am 30. September. In Düsseldorf/Duisburg freue ich mich auf eine sehr italienische Saison, mit Wiederaufnahmen von „Madama Butterfly“, „La Cenerentola“ und „La Traviata“. Bisher habe ich noch keine ganze Oper von Rossini dirigiert. Im Sommer habe ich daher vor, nach Italien zu fahren, um meine Sprach- und Kulturkenntnisse zu vertiefen. Als eigene Premiere habe ich Jerry Bocks berühmtes Musical „Anatevka“.
Wenn Sie wählen könnten, welche Stücke würden Sie dirigieren?
Ich würde gerne meinen ersten eigenen Wagner dirigieren. Ich habe bei vielen Wagner-Opern in England assistiert. Eine meiner ersten war „Parsifal“ als Assistent von Sir Mark Elder. Am liebsten würde ich Uraufführungen dirigieren, von Thomas Adès oder George Benjamin, doch das wird nie geschehen, weil diese Komponisten selbst Dirigenten sind. Aber eine Partitur zu sehen und sie in die Realität des Klangs zu bringen, finde ich sehr spannend. Auch die Opern von Leoš Janáček liegen mir am Herzen. Im sinfonischen Bereich bin ich auf Germaine Tailleferre aufmerksam geworden, die viele tolle Stücke geschrieben hat, von denen wenige ins Repertoire gelangt sind, obwohl sie im Konzertsaal wunderbar klingen. Am liebsten würde ich per Post eine Partitur von Miroslav Srnka aus Prag bekommen, die bisher niemand gesehen hat und das Privileg haben, als Erster über das neue Stück nachzudenken. Auch eine Sinfonie von Edward Elgar habe ich leider noch nie dirigiert.
„So viele unterschiedliche Häuser auf kleinem Raum in NRW“
Sie waren an vielen Häusern in Nordrhein-Westfalen tätig: Wuppertal, Gelsenkirchen, Köln … Wie sind ihre Erfahrungen?
In Gelsenkirchen habe ich mit Engelbert Humperdincks „Königskinder“ meine erste Oper in Deutschland dirigiert. Das war eine Traumsituation. Man kommt in den Graben und kann den wunderbaren deutschen Orchesterklang genießen. 2017 war ich als Korrepetitor hier in Düsseldorf tätig. Das war meine erste Erfahrung an einem großen Repertoirehaus. Es war aufschlussreich zu erleben, wie so ein Haus funktioniert. Ich musste in sechs Wochen vier Stücke spielen. Es ist hochinteressant, wie in NRW auf kleinem Raum so viele unterschiedliche Häuser versuchen, ihren eigenen Stil zu finden und der Öffentlichkeit zu präsentieren.
Harry Ogg | Die Zauberflöte: Opernhaus Düsseldorf, 14. (WA), 16., 19.6. | Die tote Stadt: Theater Duisburg, 17. (P), 22., 24.6.
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