Es ist ein Moloch aus Elend und Hoffnungslosigkeit, das Tonio Feuersinger in New York vorfindet. Hier in der Großstadtmetropole wollte der von Luis Trenker gespielte Südtiroler einen Unfall beim Bergsteigen verarbeiten. Doch weit entfernt von den Alpen bleibt ihm als Tagelöhner nichts anderes übrig, als sich wie viele andere an der langen Suppenküchen-Schlange anzustellen. Als er in die Kamera blickt, fließen ihm Tränen über die Wangen. Ganz anders sieht es mit dem späteren Blick auf ein verschneites Dorf aus, das der von Trenker gespielten Figur ein Lächeln entlockt. Das Auswander-Drama „Der verlorene Sohn“ evoziert damit bereits das Spannungsverhältnis zwischen Zuhause und Ferne, das den Heimatfilm kennzeichnet.
Das Genre stand an diesem Cinescience-Abend vom Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) im Fokus. Unter dem Motto „Zwischen Idylle und Horror: Die Tradition des Heimatfilms“ präsentierten und analysierten die GeschichtswissenschaftlerInnen Armin Flender vom KWI, Anna Marie Strommenger von der Universität Duisburg-Essen sowie der Literaturwissenschaftler Jan Wilm (KWI) exemplarische Filmsequenzen.
Mit „Der verlorene Sohn“ legte Luis Trenker 1934 bereits einen Film vor (als Hauptdarsteller und Regisseur), der als Meilenstein dieses Genres bezeichnet werden kann. Vor allem, was das Verhältnis zwischen Ferne und Heimat betrifft, wie Wilms erklärt: „Das ist etwas, da sich durch viele Heimatfilme zieht.“ Denn Trenkers Feuersinger wird die Bedeutung seiner abgeschiedenen Bergwelt erst so richtig bewusst, als er im urbanen Dschungel untergeht: „Das erscheint oft erst in der Vergangenheit und damit in der Verklärung“, sagt Wilms über das Heimatkonzept auf der Leinwand. In einer Szene bringt Trenker diese eigentümliche Dialektik selbst auf den Punkt: „Wer nie fortkommt, kommt nie Heim.“
Ist das umstrittene Genre damit reaktionär? Oder bloß bieder und eskapistisch? Zumindest verarbeiten diese natur- wie provinzbejahenden Streifen sozial- und gesellschaftspolitische Motive, wie Anna Marie Strommenger am Beispiel des Films „Grün ist die Heide“ (1952) darlegte. Der Kinokassen-Erfolg der Nachkriegszeit (25 Millionen BesucherInnen) gilt als Inbegriff des Heimatfilms und griff die Thematik der Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten auf.
Denn auf der Leinwand finden sich die geflüchteten Figuren schnell in der Lüneburger Heide wieder – und fühlen sich dort pudelwohl, genauso wie alle anderen in dieser harmonischen Welt. „Die Heide erscheint als integratives Heimatangebot für fast alle Figuren“, sagt Strommenger. Beim Dorffest mit Tanz und Bierkrügen bedanken sich da sogar die Geflüchteten über „Güte und Verständnis, die mir hier entgegengebracht werden.“
Doch gerade in dieser Biedermeier-Boomphase bis in die frühen 60er-Jahre erfuhr das Genre des Heimatfilms Angriffe einer neuen Regie-Generation. Mit dem Oberhausener Manifest verabschiedeten junge Autorenfilmer „Papas Kino“. Einer von ihnen, Edgar Reitz, griff jedoch das umstrittene Heimatgenre auf – um es neuzuinterpretieren. „Reitz beschreibt da ein dialektisches Verhältnis bis in die Bildkomposition“, kommentiert Armin Flender von „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ aus dem Jahr 2013. Reitz fängt darin in schwarz-weiß-Aufnahmen die Jahre von 1845 bis 1848 ein, die Epoche des Vormärz. Eine Zeit, die durch Elend und Hunger geprägt ist. Wider Willen zieht es daher manche Figuren aus der dargestellten Heimat: „Das sind ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘, sie wollen weg“, sagt Flender. „Das ist fast ein antizipierender Kommentar zur sogenannten Flüchtlingskrise.“ Spannende Referenzen also aus einem längst totgesagten Genre.
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