trailer: Lisa, wie kam es dazu, dass Du 2009 mit Deinem Ex- Freund Michael das „Experiment Selbstversorgung“ gestartet hast?
Lisa Pfleger: Wir haben bereits konsumkritisch gelebt, waren aktivistisch unterwegs. Michael hat damals das Gärtnern angefangen und ich fand das cool. Vor allem wenn es um Lebensmittel geht,stößt man ja schnell an die Grenzen der Nachvollziehbarkeit. Im Biomarkt muss man genau hinschauen. Das ist dann zwar „bio“, aber vom anderen Ende der Welt und in Plastik verpackt. Da kam uns die Idee, dass man das auch selber machen kann und wir hatten das Schlagwort Selbstversorgung im Kopf.
Wie hat sich eure Idee weiterentwickelt?
Als wir uns noch überlegten, wie cool es wäre, mal einen eigenen Hof zu bewirtschaften, kam auch schon das erste Pachtangebot herein geflattert. Wir haben uns das angeschaut und entschieden: passt, machen wir. Das war noch nicht der Hof im Südburgenland, sondern in Niederösterreich. Dort haben wir für ein Jahr gegen Mithilfe gewohnt, bevor wir nach Tschechien gezogen sind und zu viert in einer Gemeinschaft gelebt haben. Anfang 2012 endete unser ‚Hof-Hopping‘ dann im Südburgenland.
Wie habt ihr die Pacht oder auch gesetzlich vorgeschriebene Ausgaben für die Krankenkasse, Rentenversicherung etc. aufgebracht?
Zuallererst haben wir versucht, alle Ausgaben, die den Lebensstandard, das Materielle und das Geld betreffen, runterzuschrauben. Ich habe immer gearbeitet, hauptsächlich selbstständig. Ich habe mir ein Hula-Hoop-Business aufgebaut, Nachhilfe gegeben und ein veganes Kochbuch geschrieben. Wir haben auch immer Höfe gefunden, die wir gegen Mitarbeit oder andere Projekte wie Sanierung etc. pachten konnten. Unsere Mieten waren in dem Fall immer Arbeitsleistungen im Austausch. Wir waren immer relativ weit weg von der Stadt, wo die Mieten generell nicht so hoch sind.
Bezieht sich Selbstversorgung für Dich nur auf den Anbau von Nahrung oder auch auf andere Konsumgüter?
Ich möchte ganz undogmatisch schauen, was ich alles selber machen kann, es soll auch Spaß machen. Angefangen hat es klassisch mit den Lebensmitteln, weil das etwas Grundlegendes ist. Auch das Spinnen oder Besteck und Teller zu schnitzen habe ich ausprobiert. Kleidung kaufe ich seit Jahren nur second hand. Ich gehe aber nicht gerne einkaufen und kriege daher oft Sachen von Verwandten und Freunden. Ich muss trotzdem noch ausmisten, weil sich so viel dabei ansammelt und ich mehr habe, als ich anziehen kann. Ich finde es so schön, wenn Sachen eine Geschichte haben, wenn mir eine Freundin etwas schenkt und noch erzählen kann „das habe ich mal da und da gekauft“.
Außerdem habe ich mir 2014 eine Ortschaft weiter ein sehr günstiges Grundstück gekauft und will dort ein kleines Haus aus natürlichen Materialien bauen, um auch diese Art der Selbstversorgung auszuprobieren. Lebensmittel sind mir aber bei der Selbstversorgung am wichtigsten, weil es da heutzutage leider sehr schwierig ist, gute, regionale Produkte zu bekommen.
Woran liegt das?
Man ist hier umgeben von fruchtbarster Erde, aber es wächst überall Futtermais. Fast niemand baut mehr anderes Gemüse an, weil es sich nicht mehr rentiert. Obwohl das Land eigentlich da ist und es einfach wäre, sich regional zu versorgen. Einzelne Biobauern findet man schon, aber die meisten Menschen, die auf dem Land wohnen, fahren 10 km in die nächste Stadt in den Supermarkt.
Auch die alten Strukturen gibt es nicht mehr. Früher wurden z.B. Äpfel in einem uralten Keller gelagert und waren im April schon ein wenig runzelig, schmeckten aber noch. Heutzutage ist es aber so, dass der Apfel makellos sein muss – selbst wenn er bio ist. Dabei könnte man Äpfel auch heute ganz ökologisch lagern. Einfach nur im Keller.
Welche praktischen Fehler habt ihr anfangs als Selbstversorger gemacht?
Ich hatte Probleme zu erkennen, ob da Unkraut wächst oder ob das schon zur Pflanze gehört. Man kennt aus dem Supermarkt meist nur die Frucht, die man kauft. Wenn man Triebe ausreißt, weil man denkt, es sei Unkraut, ist das sehr ärgerlich. Aber irgendwann weiß man, wie diese ganz kleinen, ersten Blätter ausschauen. Das ist ein spannender Lernprozess und schön zu sehen, wie aus einem millimeterkleinen Samenkorn eine riesige Pflanze wächst. Das Verhältnis ist einfach unglaublich.
Gibt es etwas, womit Du Dich künftig selbst versorgen möchtest, was aber noch nicht möglich ist?
Oh ja! Ein total reichhaltiger Obstgarten mit allen möglichen Obstsorten. Ich stelle mir riesige, voll behangene Bäume vor, die fast zerbrechen an der Last der Früchte. Das werde ich auf meinem Grundstück jetzt mal angehen. Das wäre das Paradies!
Vermisst Du bei der Selbstversorgung nichts?
Nein. Wenn ich etwas vermissen würde, dann würde ich es mir kaufen. Ich will mir kein Korsett umschnüren wenn ich merke, dass es mir damit nicht gut geht. Ich bin neugierig und probiere gerne aus. Aber ich will mir keine strengen Regeln setzen. Selbstversorgung wird manchmal mit Kasteiung gleichgesetzt (lacht). Das ist es aber nur, wenn man es auch so sieht.
Wie kommt diese undogmatische Haltung bei kapitalismuskritischen Hardlinern an?
Es gibt Kommentare, wir seien inkonsequent, weil wir Internet und Facebook nutzen und unsere Computer nicht selber basteln (lacht), aber da muss ich schmunzeln. Schwarz-Weiß-Denken ist gar nicht meins. Ich glaube nicht, dass man damit argumentieren sollte. Ich inspiriere lieber und gebe Anregungen, Sachen auszuprobieren, anstatt zu sagen, dass meine Lebensweise der Weisheit letzter Schluss ist und alles andere verkehrt.
Wie können Stadtbewohner mit der Selbstversorgung anfangen?
Auf einem Balkon kann man viel machen, zum Balkongärtnern gibt es sehr viel Literatur. Hat man keinen, gibt es die Möglichkeit, die Fensterbank komplett auszunutzen, indem man dort Sprossen der Kräuter pflanzt. In der Stadt kann man oft auch kleine Selbsterntefelder pachten. Man braucht keine 100-200 qm, das ist sehr arbeitsintensiv. Eine kleine Parzelle mit 30-50 qm reicht schon aus, um selbst etwas anzubauen. Und es gibt CSA-Höfe, Community Supported Agriculture, die solidarische Landwirtschaft betreiben. Die Bauern bauen für einen an und man zahlt einen fixen Betrag, um Gemüse abzuholen. Solidarisch ist das, weil man bei guter Ernte viel, bei schlechter weniger bekommt.
Wenn Du 1000 Jahre in die Zukunft reisen könntest, wie würdest Du Dir die Welt wünschen?
Ich wünsche mir alles regionaler und dezentraler und dass wir uns mehr als Teil eines Ganzen fühlen, um die Natur und unsere Umwelt wieder besser zu verstehen. Ich wünsche mir nicht,dass wieder alle selbst in vollem Umfang anbauen. Immerhin gibt es noch andere wichtige Aufgaben in einer Gesellschaft. Städte wären lebenswerter, wenn alles ein bisschen grüner wäre. Ich wünsche mir auch, dass wir alle mehr darüber nachdenken, welche Auswirkungen unser Handeln hat.
www.experimentselbstversorgung.net
Lesen Sie weitere Artikel zum Thema auch unter: choices.de/thema und engels-kultur.de/thema
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