Im Gasometer in Oberhausen schweben sphärische Klänge durch die Luft. Ein Saxophonist spielt gegen seine eigenen Echos an. Scheinwerfer beleuchten das Paar, ihn im schwarzen Smoking, sie im strahlend weißen Brautkleid. Langsam schreiten Mann und Frau die Stufen hinab zum Standesbeamten. Manche Zuschauer, auch solche, die nur zufällig der Zeremonie beiwohnen, schnäuzen sich die Nase. Andere zücken ihre mobilen elektrischen Geräte, um jenen Moment auf digitale Datenträger zu bannen. Heiraten kann so schön sein. Auch im Ruhrgebiet. Vielleicht gerade im Ruhrgebiet.
Trotzdem machen es immer weniger junge Menschen. Die Institution Ehe hat an Strahlkraft erheblich verloren. In 2011 heirateten laut Statistischem Bundesamt 6,8 Prozent weniger Paare als im Jahr zuvor. Nur noch in Duisburg-Marxloh, dort, wo auf der Hamborner Straße dutzende türkische Brautmodengeschäfte auf Kundschaft warten, scheint die Welt der Ehebefürworter noch in Ordnung zu sein. Oder in der schwul-lesbischen Community. Dort wird zuweilen auch vom Bund fürs Leben geschwärmt wie sonst nur vor 50 Jahren. Das christliche Abendland allerdings, das sich ja weder von Muslimen noch von Homosexuellen repräsentiert sieht, traut sich mehrheitlich nicht mehr, sich trauen zu lassen.
Das Motiv der Familienpolitik ist klar
Auch politisch gerät die Ehe immer mehr unter Druck. Außer CDU und CSU mag keine Partei im Bundestag die bestehenden gesetzlichen Regelungen, die Verheiratete massiv begünstigen, so beibehalten. Die Frage, ob nicht auch verpartnerschaftlichte Homosexuelle Anrecht auf das Ehegattensplitting haben, hat es sogar bis auf die Tagesordnung des letzten CDU-Bundesparteitages geschafft. Ob dies den revolutionären Geist mancher Christdemokraten offenbart oder doch eher deren taktisches Kalkül? Gerade die Union hat bei den vergangenen Wahlen in den Metropolen massiv an Wählern verloren. Im Ruhrgebiet wird als einzige Großstadt nur noch das im fernen Osten liegende Hamm von der CDU regiert, in NRW sind es nur die Großstädte Düsseldorf, Aachen und Münster. Die CDU aber ist in einem Dilemma. Verabschiedet sie sich von ihrem konservativen Weltbild, reagieren die Konservativen, die vor allem in der Provinz vorzufinden sind, mit Wahlenthaltung. Verabschiedet sie sich nicht davon, verliert sie weiter potentielle Wähler in den urbanen Milieus. Dabei geht es nicht nur um die Gleichstellung hetero- und homosexueller Lebensformen. Auch mit der Debatte um das Betreuungsgeld, von den Gegnern gern „Herdprämie“ genannt, setzte sich die Union ins Aus. Anstatt den gesetzlich garantierten Kinderbetreuungsplatz zu schaffen, unterstützt die Bundesregierung Paare, bei denen ein Partner sich ausschließlich der Kindererziehung widmet. Eine ähnliche Stoßrichtung hat der Plan von CDU-Familienpolitikern, Putzfrauen-Gutscheine auszugeben. 15 Stunden im Monat soll sich der Staat an den Kosten für Reinigungskräfte beteiligen, damit gut ausgebildete Mütter schneller wieder ins Erwerbsleben einsteigen können. Die Mami hat Zeit für Karriere und Kind, das Geschirr räumt in der Zwischenzeit die Perle weg. Das Motiv einer so gearteten Familienpolitik ist klar. Der Staat möchte, dass mehr Kinder in der Mittel- und Oberschicht geboren werden.
Gesellschaftliche Vielfalt als Chance
Eine Frage aber bleibt bei all den neuen Initiativen zur Stärkung von Familien offen. Warum glaubt der Staat, mit finanziellen Anreizen einen offensichtlichen gesellschaftlichen Trend umkehren zu können? Menschen wollen nicht mehr so gerne heiraten. Vor 30 Jahren stieg die Scheidungsrate. Konservative machten die Liberalisierung des Scheidungsrechts dafür verantwortlich. Dabei war schon damals nicht klar, ob zuerst Huhn oder Ei dagewesen ist. Die damalige Generation hatte es einfach leid, dem Schicksal ihrer Eltern zu folgen und unglücklich zu sein, bis dass der Tod sie scheidet. Die heutige Generation mag vielleicht auch nicht dem Schicksal ihrer Eltern folgen, indem sie bösartige und kostspielige Rosenkriege inszeniert. Wer nicht heiratet, kann auch nicht geschieden werden.
Die Politik sollte, statt einseitig nur traditionelle Lebensentwürfe zu fordern und zu fördern, Raum schaffen für alle menschenfreundlichen Formen des Zusammenlebens. Statt Ehegattensplitting, Betreuungsgeld und Putzfrauengutscheinen sollte der Staat massiv in die Förderung von Kindern investieren. Und die gesellschaftliche Vielfalt, die ja gerade in Metropolen und Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet verbreitet ist, sollte eher als Chance denn als Problem wahrgenommen werden. Aktuelle wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Kinder sehr wohl in Patchworkfamilien gedeihen können. Und gerade versteckte kriegerische Auseinandersetzungen in sogenannten intakten Ehen sind für kleine Erdenbürger oft schwer zu ertragen. Die zunehmende Vergreisung unserer Gesellschaft lehrt zudem, dass wir über jeden Menschen, der sich für ein Kind entscheidet, froh sein sollten, egal ob ledig, homosexuell oder arbeitslos. Nicht nur Babys von reichen verheirateten Eltern sollten willkommen sein.
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