Essen, 21.1.: Regisseur Christian Wagner hat den ganz Großen seiner Zunft etwas voraus. Brad Pitt, Christian Bale und andere Hollywood-Größen planen, das Buch „The Big Short“ über die jüngste US-Immobilienkrise zu verfilmen. Sogar Avantgarde-Filmer Sergej Eisenstein ist schon grandios daran gescheitert, Marx' „Kapital“ in Filmform zu bringen. Wagner hat es geschafft. Er hat ein Sachbuch verfilmt. Und dann auch noch eines über Jugendkriminalität: „Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“ von Kirsten Heisig. Auch wenn das Werk der Jugendrichterin Heisig, die vor ihrem überraschendem Selbstmord 2010 mit ihrem Einsatz gegen Jugendkriminalität für Schlagzeilen gesorgt hat, autobiographisch geprägt ist, ist es doch ein ziemlich fachjuristischer Jargon, der die Zeilen durchzieht. Kurzum: Ein Sprachduktus, der jedem Belletristen schon Strafvollzug genug ist. Das bemerkt auch Wagner, der im Vorfeld der vom Medienforum des Bistums Essen veranstalteten Filmaufführung im Filmstudio Glückauf aus dem Buch liest: „Sie sehen auch hier, dass die Vokabeln von einem Juristen kommen.“ Das lässt sich auch der studierte Literaturwissenschaftler auf der Zunge zergehen: „Zuchtmittel ist so ein Wort.“ Genauso: „Reifedefizite“ oder „Heranwachsende Delinquenten“.
„Richterin Gnadenlos und Richterin Courage“
Die hölzernen Begriffe umschreiben die Protagonisten Heisig jedoch treffend – zumindest was ihre Darstellung im Film angeht, mit dem der Jugendrichterin (Wagner nennt zwei Etiketten: „Richterin Gnadenlos und Richterin Courage“) auch ein Denkmal gesetzt werden sollte: Hart und kompromisslos gegen die Kiddies, gleichzeitig immer engagiert darauf bedacht, die Jugendlichen aus der Spirale von Gewalt und Kriminalität herauszuholen. Im Film steht entsprechend die Figur der Heisig im Vordergrund, als Jugendrichterin Corinna Kleist (Martina Gedeck).
Wie die reale Kirsten Heisig wird sie verantwortliche Jugendrichterin für den Bezirk Neukölln. Dort sorgen vor allem libanesische Familienclans für eine extrem hohe Jugendkriminalitätsrate. Der Film zeigt, wie Kleist versucht, mit den Eltern der jugendlichen Täter ins Gespräch zu kommen oder wie sie ihr „Neuköllner Modell“ durchsetzt, womit schneller und vereinfachter Jugendverfahren durchgesetzt wurden. Gleichzeitig werden ihre kontroversen Ansichten in der Verfilmung berücksichtigt: Der Mutter eines jugendlichen Täters, die die sozialen Nöte der Familie vorträgt, entgegnet Kleist trocken: „Sie brauchen kein Geld, sie brauchen einen Deutschkurs.“ Denn auch Heisig vertrat die These, dass der Großteil der IntensivtäterInnen, in etwa 90 Prozent, arabische Jugendliche sind.
Missstände in der Asylpolitik
Ob der Film damit auch ein Abgesang auf den Abschied von der Multikulti-Gesellschaft ist, wollten dann vor allem die ZuschauerInnen im Publikum erfahren. Regisseur Christian Wagner wies aber im anschließenden Publikumsgespräch vor allem auf die Missstände in der der Asylpolitik hin. Auf ihre eigene Art wollte wohl auch Heisig etwas dagegen unternehmen, so Wagner über seine Motivation: „Das Hauptinteresse war, eine Figur zu finden, die versucht, etwas anders zu machen.“ Das erforderte auch eine Einarbeitung in das Thema Jugendkriminalität: „Erst nach Anwesenheit bei mehreren Prozessen habe ich den emotionalen Gehalt von Kirsten verstanden“, so Wagner. Die Erfahrungen konnte er zumindest mit dem interessierten wie vom Thema aufgerüttelten Publikum teilen. Nur schade, dass gar keine Jugendlichen anwesend waren.
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