Es ist nicht Nosferatu, der da vom Plakat grüßt. Cecilia Bartoli liebt es, nicht nur musikalisch in fremde Figuren abzutauchen. Sie beschränkt sich längst nicht auf den Mainstream ihres Faches als Koloratur-Sopranistin, sondern forscht akribisch nach vergessenen Interpreten oder Komponisten. Ihre Stimme betört am meisten in jenem Mezzo-Bereich, der nicht gleich die jungen Leute verschreckt und der in den Hörgeräten der Alten zerrt. Deshalb wäre sie prädestiniert, auch die Pop-Charts zu stürmen und im gepflegten Crossover die Massen zu begeistern wie einst Montserrat Caballé mit der Rock-Ikone Freddy Mercury. Mit der Caballé verbindet sie ebenfalls ihre außergewöhnliche Nahbarkeit und ihre natürliche Begegnung mit dem Publikum: Die Bartoli sprengt Barrieren zum Volk in mindestens vier bis fünf Sprachen.
Und so hat sich die Italienerin, Tochter eines Sängerpaares, auf die Alte Musik und den Belcanto verlegt – wobei Belcanto nicht nur eine schöne Stimme meint, sondern den italienischen Operngesang bis zu Verdi: Die fein ausgezierten, technisch fantastisch-anspruchsvollen Gesangslinien der Kastraten, die mit ihren Künsten die Damen in die Ohnmacht trieben, bezeichnen den eigentlichen Gipfel des Belcanto. „Sacrificium“ hieß ein Projekt der Bartoli, in dem sie androgyn gewandet die virtuosen Partien der berühmtesten Kastraten interpretierte. Seit zwanzig Jahren singt sie an der Spitze ihres Faches und gilt als „bestverkaufte klassische Künstlerin unserer Zeit“, seit zehn Jahren verarbeitet sie ihre eigenen Programme in Projekten. Für ein Sängerinnenportrait ließ sie einen Sattelschlepper zum Ausstellungsraum umbauen, der ihre Tour begleitete. Es ist alles möglich bei dieser Anti-Diva, die in Salzburg selbst mit gebrochenem Bein in der Mozart-Oper „Cosìfan tutte“ („So machen’s alle“) über die Bühne humpelte: So etwas macht – außer ihr – kaum jemand!
Jetzt gastiert sie in den berühmtesten Konzertsälen der Welt mit ihrem Programm „Mission“, und sie ist natürlich die Missionarin. Dazu reist Bartoli zurück in die Ära des Frühbarocks, zu einem Komponisten, der dreißig Jahre vor Bach und Händel in Italien zur Welt kam. Er hieß Agostino Steffani, und Cecilia Bartoli ist begeistert über seine frische Musik in Form von Solo-Arien, Duetten und Chorstücken mit Solo-Sopran. Auf der CD duettiert sie dabei mit dem Countertenor Philippe Jaroussky, einem der führenden Alti seiner Zunft. Weil dieses Schatzjäger-Szenario so spannend und so ansteckend ist, hat die Schriftstellerin und Bartoli-Verehrerin Donna Leon einen Krimi zum Projekt geschrieben, der in der Zeit des Komponisten und nunmehr Romanprotagonisten Steffani angesiedelt ist. Das Buch erscheint jetzt mit der CD – auch als Luxus-Edition – im künstlerischen Doppelpack. Natürlich darf da auch eine verspielte iPad-App nicht fehlen, die Marktmaschinerie läuft erbarmungslos an. Aber manchmal lohnt es sich ja trotzdem auch für den Kunden.
Dortmund: Di 27.11 20 Uhr I www.konzerthaus-dortmund.de
Köln: Do 22.11. 20 UhrI www.koelner-philharmonie.de
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