Im selben Jahr wie Stanley Kubricks schwarze Satire „Dr. Strangelove“ („Dr. Seltsam oder wie ich lernte, die Bombe zu lieben“) spielte Sidney Lumet das Motiv des unbeabsichtigt ausgelösten Atomkriegs in dokumentarisch anmutender Schwarz-Weiß-Fotografie bis zur bitteren Schlusskonsequenz radikal durch. „Fail-Safe“ heißt dieses Drama von 1964, hierzulande in Landserfilm-Manier „Angriffsziel Moskau“ benannt. „fail-safe“ bedeutet so viel wie „absolut zuverlässig“ und „betriebssicher“. Genau das ist die Technik jedoch nicht. Eines der aufgrund eines Fehlers der technischen Systeme gen Moskau geschickten US-Flugzeuge erreicht am Ende sein „Angriffsziel“ und zerstört die Stadt mit einer Atombombe. Als Kompensation ordnet der amerikanische Präsident (Henry Fonda) die Auslöschung New Yorks durch die eigene Air Force an. Das Schlussbild vergisst man nicht: Ein grobkörniger Still vom New Yorker Straßenleben, als Hintergrundgeräusch das Flügelschlagen von Vögeln.
Diese finale Wendung dürfte dem überzeugten New Yorker Lumet nicht leicht gefallen sein. So oft wie kaum ein anderer nutzte der 1924 in Philadelphia geborene Regisseur die Stadt als Schauplatz. Berühmt wurden vor allem die dort spielenden Polizei- und Justizfilme aus der New-Hollywood-Ära wie „Serpico“, „Prince Of the City“ und „The Verdict“, die er in 1970ern und 1980ern drehte. Ihre zentralen Figuren sind engagierte Einzelkämpfer gegen Korruption, Amts- und Machtmissbrauch. Auch das 1997 entstandene Alterswerk „Night Falls On Manhattan“ („Nacht über Manhattan“) macht noch einmal klar, dass Gerechtigkeit nicht immer auf formaljuristisch lupenreine Weise zu haben ist. Und auch nicht unbedingt auf dem Weg der Gegengewalt, wie das Ende von „The Hill“ („Ein Haufen toller Hunde“) nahelegt, wo sich britische Soldaten in einem Army-Straflager des Zweiten Weltkriegs gegen einen sadistischen Sergeant auflehnen, der sie jeden Tag in der libyschen Wüstenhitze mehrfach einen künstlichen angelegten Sandhügel hinaufjagt.
Die großen Fragen der Moral und Gerechtigkeit haben Lumet immer wieder interessiert, bis hin zu seinem letzten, hoch gelobten Film „Before the Devil Knows You’re Dead“ („Tödliche Entscheidung“) aus dem Jahr 2007, einer düsteren Mischung aus Familien, Drogen- und Kriminaldrama, an dessen Ende kein Gras mehr wächst. Wie hier Philip Seymour Hoffman und Albert Finney standen Lumet immer wieder herausragende Schauspieler zur Verfügung, die er mit minutiöser Vorbereitung zu Höchstleistungen führte.
Ihm selbst blieb die höchste Auszeichnung der Academy trotz zahlreicher Nominierungen zeitlebens verwehrt (mit Ausnahme des Lebenswerk-Preises), doch gleich beide Hauptdarsteller von „Network“ (1976) erhielten Schauspiel-Oscars. Faye Dunaway bekam ihn für ihre grandiose Show als skrupellose TV-Programmverantwortliche, Peter Finch postum für seinen durchgeknallten Moderator, der schon einmal in Schlafanzug und Bademantel ins Fernsehstudio geht („Ich muss Zeugnis ablegen!“) und dem Sender als „zorniger Prophet“ zu Quotenrekorden verhilft. Es ist immer noch verblüffend, wie schnell diese Mediensatire von der Wirklichkeit eingeholt wurde. Heutzutage treten „zornige Propheten“ von ganz anderer Art wie der kürzlich geschasste Glenn Beck im US-Fernsehen auf und werden von nicht gerade wenigen Zuschauern ernstgenommen – aber immerhin nicht von Jon Stewarts Daily Show.
Sidney Lumets berühmtestes Werk dürfte indes immer noch sein Debüt als Spielfilmregisseur aus dem Jahr 1957 sein. Wie die „12 Angry Men“ respektive „Die zwölf Geschworenen“ um die Rekonstruktion des Tathergangs in einem Mordfall ringen, nachdem einer von ihnen begründete Zweifel an der Schuld des Angeklagten vorgebracht hat, ist nach wie vor großes (Schauspieler-)Kino. Anhand solcher exemplarischer Figuren wie Henry Fondas Geschworenem Nr. 8 hat Lumet elementare Themen wie Gewissen und Verantwortung des Einzelnen verhandelt. Reine Unterhaltung war seine Sache nicht, er wollte Filme immer auch als Denkanstöße verstanden wissen.
Am 9. April ist Sidney Lumet in New York gestorben. Werke für einen Platz im Kino-Olymp hat er in ausreichender Zahl hinterlassen.
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