Drei übereinander geworfene Pferdekadaver im Zentrum der Bühne, ein zerschlissener schmutziger Nesselvorhang als Begrenzung der Tanzfläche – die Installation der belgischen Künstlerin Berlinde De Bruyckere erinnert an einen Kriegsschauplatz. Zu Stückbeginn versammeln sich die neun Tänzer, acht Männer und eine Frau, im Kreis um die Skulptur, versenken sich wie in einem Todesritual in deren Anblick, bevor die Spielfläche zu einem Schlachtfeld wird. In dem fast fünfzehnminütigem Kampf der Eröffnungsszene reißen sich die Tänzer die Kleidung vom Leib, verwinden ihre Körper ineinander, taumeln, fallen, wälzen sich am Boden – der Mensch ist des Menschen Feind. Auch in den weiteren Szenen, die assoziativ aneinander gefügt sind, gehen die Tänzer ins Extreme, quälen aneinander, erleiden Schmerzen, suchen Annäherung, ohne zueinander zu kommen.
Der taumelnde Kontinent
Angeregt wurde Alain Platel für seine Choreographie durch Philipp Bloms „Der taumelnde Kontinent“, einer Analyse der Zeit von 1900 bis 1914, die Parallelen zur Gegenwart aufweist: Heute wie damals leben wir in einer Zeit, die von neuen Technologien, von Globalisierung, Terrorismus und neuen Formen der Kommunikation beherrscht ist. Bestehende Sozialgefüge verändern sich, eine sich beschleunigenden Welt rast ins Unbekannte, schreibt Bloms. Das hat eine große Verunsicherung des Menschen zur Folge, der versucht, sich gegen das Fremde und Neue zu behaupten und abzugrenzen. Er fühlt sich in seiner Identität bedroht, die er in aggressiver Abwehr, Konfrontation und Kampf zu bewahren meint.
Platel stellt die Musik Gustav Mahlers in den Mittelpunkt seiner vierten Arbeit für die Ruhrtriennale. Mahler lebte in der auseinanderfallenden Welt der Donaumonarchie vor dem Ersten Weltkrieg. Mit Sehnsucht blickt er zurück in das ausgehende 19. Jahrhundert und komponiert eine Musik, in der die kontrastierenden Klangwelten seiner Jugend, in der Feste, Trauer und Trommelwirbel der benachbarten Kaserne erklingen. Doch diese Erinnerungen reißen immer wieder ab und kontrastieren mit Mahlers momentaner psychischen Verfassung, seinem Weltschmerz und seiner Sehnsucht nach Erlösung aus der eigenen Zerrissenheit.
Platel und seinen musikalischen Mitarbeiter Steven Prengel regten die verschiedenen Stilrichtungen und Gemütszustände dieser Musik an, sie weiter zu collagieren und mit afrikanischen polyfonen Traditionen zu verbinden, die zwei Ensemblemitglieder miteinbrachten, die kongolesischen Sänger und Tänzer Boule Mpanya und Russell Tshiebua. Aber auch eingespielte Laute schlafender Tiere zu oder das Fragment des Bachchorals „Den Tod niemand zwingen kunnt“, von den Tänzern wie in einem Totenritual vor den Pferdekadavern gesungen, kommen zu Gehör.
Auf Dauer erschöpft sich der virtuose Aktionismus
Platel hat für diesen Abend ein heterogenes multikulturelles Ensemble zusammengestellt, dessen Tänzer sich nicht nur in Herkunft, sondern auch in Physiognomie und Tanztechnik stark unterscheiden. Das erlaubt eine Vielfalt der tänzerischen Ausdrucksmöglichkeiten mit Anleihen bei Hip Hop und Break Dance. Eindrucksvolle Szenen wie die Marterung eines leblosen Körpers durch die Gruppe oder die hilflos anrührende Verwindung zweier Tänzer in ihrem Bedürfnis nach Nähe bleiben im Gedächtnis.
Die Simultanität tänzerischer Aktionen führt aber leider auch zu einer Defokussierung und Dekonzentration des Geschehens, das Auge des Betrachters verliert sich in der parallelen Vielfalt, so dass viele der virtuosen Sequenzen untergehen. Auf Dauer erschöpft sich der virtuose Aktionismus, die Abfolge scheint willkürlich und austauschbar.
Bleibt zum Schluss die Frage nach dem Verhältnis von Tanz und Musik: Die Bewegungen der Tänzer stehen oft im Gegensatz zum hochexpressiven musikalischen Pathos Mahlers und konterkarieren es: Es scheint, dass man sich ihm verweigert. Im Programmheft heißt es, dass Platel und die Tänzer zu Beginn der Probenarbeit mit Mahlers Musik mit Abwehr reagiert hätten. Und so scheint es bis zum Ende geblieben zu sein: Die groteske Schlussszene zum 1. Satz von Mahlers „Auferstehungs“-Symphonie wirkt wie eine Karikatur auf das Pathos der Musik, als wollte Platel den Komponisten mit seiner sarkastischen Desillusionierung eines Besseren belehren. Und an diesem Widerspruch krankt der Abend trotz der immensen tänzerischen Leistung aller Beteiligten.
„Nicht schlafen“ | R: Alain Platel | Do 8.9., Fr 9.9., Sa 10.9. jeweils 20 Uhr | Jahrhunderthalle Bochum | | www.ruhrtriennale.de |
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