Cineast:innen erinnern sich bestimmt noch daran, wie Armin Mueller-Stahl neben Giancarlo Esposito 1991 im Taxi durch das nächtliche und winterliche New York tuckerte. Und so ist es auch eine Hommage an Jim Jarmuschs Kultfilm „Night on Earth“, was das Publikum bei der Uraufführung von Julian Rosefeldts „Euphoria“ in der Halle 5 der Zeche Zollverein sieht – zumindest zum Teil. Denn Esposito sitzt auf der großen Leinwand am Taxisteuer. Allerdings beteiligt er sich nicht an coolen Jarmusch-Dialogen.
Krieg, Armut, Philosophie
Der Schauspieler hält seinem Fahrgast vielmehr eine Suada, die aus Aphorismen über den menschlichen Hang zu Gier und Bellizismus besteht. Und so sprudeln ihm allerlei Zitate aus dem Mund – von der Platon zugesprochenen Sentenz, der zufolge nur die Toten das Ende des Krieges gesehen haben, bis hin zu diesem Sartre-Spruch: „Wenn die Reichen Krieg führen, sind es die Armen, die sterben“.
Diese Armen spielen eine Hauptrolle in der knapp zweistündigen Filminstallation, die Rosefeldt für die Ruhrtriennale schuf. Sie schuften in den jeweiligen Episoden zum Beispiel in riesigen Logistikcentern oder hocken mit Schnapspullen um eine Feuertonne. Sie verzetteln sich in Dialogen, in denen sie ökonomische Theorien von Adam Smith bis John Meynard Keynes referieren oder Revisionen raushauen, die eher eine grüne Wachstumsskepsis berücksichtigen.
Denn Rosefeldt durchforstete mit seinem Dramaturgen die Literatur, Philosophie und Ökonomie, um eine zweieinhalb Jahrtausende währende menschliche Wirtschafts- und Theoriengeschichte zu entblättern. Dass die entdeckten Weisheiten (und Plattitüden) von den Darstellern rezitiert werden, ist ein ästhetischer Anknüpfungspunkt an Rosefelds erfolgreiche und für das Kino adaptierte Filminstallation „Manifesto“, die 2016 bei der Ruhrtriennale zu sehen war. Damals war es der Hollywoodstar Cate Blanchett, die in wechselnde Rollen die Manifeste von Tristan Tzara, Marinetti oder Malewitsch darbot. Blanchett erklingt auch in „Euphoria“, diesmal als Stimme eines Tigers, der – wohl als Allegorie menschlicher Gier – durch einen Supermarkt streift.
Rhythmus der Gier
Anders als in „Manifesto“ gelingt es dieser aufwendigen Produktion nicht, Rosefeldts Anspruch der Black Box des Kinos als demokratischen Raum (im Gegensatz zum elitären White Cube der Kunstmuseen) einzulösen. Zwar kleben die Augen des Publikums auf der großen Leinwand. Aber das liegt weniger an den recycelten Zitaten von Marx, Brecht, Smith und Co., sondern an den Schauwerten, die „Euphoria“ liefert: von den Häuserschluchten aus der Vogelperspektive bis hin zu einer Musical-Hommage im Marmorfoyer der American National Bank, die vor dem Krieg im Kiewer Hauptbahnhof gedreht wurde. In dieser Szene beginnen die Bänker à la Busby Berkeley zu steppen. Als wären Macht und Ausbeutung ein Anlass, das Tanzbein zu schwingen.
Ruhrtriennale: Philoktet | 6.-10.9. je 12-19.30 Uhr | Unesco Welterbe Zollverein, Halle 5, Essen
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Orte mit Bedeutung
Zur Ruhrtriennale: Berlinde De Bruyckere in Bochum – kunst & gut 09/24
Keine Spur von Rechtsruck
Die Ruhrtriennale 2024 in Bochum, Duisburg und Essen – Prolog 07/24
Alptraum ohne Ausweg
Ruhrtriennale: Leoš Janáčeks „Aus einem Totenhaus“ in Bochum – Oper 09/23
Gitarrengewitter im Landschaftspark
Anna Calvi bei der Ruhrtriennale – Musik 08/23
Dem Horror entfliehen
„The Visitors“ bei der Ruhrtriennale – Tanz an der Ruhr 09/23
Monumentales Werk
„Das große Abend- und Morgenlob“ in Dortmund – Klassik an der Ruhr 08/23
Kontrollverlust und Lüste
Zwei „hemmungslose“ Schauspiele bei der Ruhrtriennale – Prolog 08/23
Von guten und bösen Geistern
Ruhrtriennale 2023 an div. Orten im Ruhrgebiet – Prolog 06/23
Indigener Widerstand
„Encantado“ auf PACT Zollverein – Tanz an der Ruhr 08/22
„Die müssen unser Zusammenleben noch 70 Jahre lang ertragen“
Anne Britting über die Junge Triennale – Premiere 07/22
Tanz auf dem Todesstreifen
Ruhrtriennale: „Danza y Frontera“ auf Pact Zollverein in Essen – Bühne 09/21
Der Kampf gegen die Geister der Vergangenheit
Kollektive und individuelle Erinnerungsprozesse bei der Ruhrtriennale – Prolog 08/21
Aus zwei Sammlungen
Das frühe 20. Jahrhundert im Kunstmuseum Mülheim – kunst & gut 11/24
Keine falsche Lesart
Ree Morton und Natalie Häusler im Kunstmuseum Bochum – Ruhrkunst 11/24
Hinter Samtvorhängen
Silke Schönfeld im Dortmunder U – Ruhrkunst 11/24
„Mangas sind bei der jungen Leserschaft die Zukunft“
Leiter Alain Bieber über „Superheroes“ im NRW-Forum Düsseldorf – Sammlung 11/24
Der Künstler als Vermittler
Frank van Hemert in der Otmar Alt Stiftung in Hamm-Norddinker – kunst & gut 10/24
Gelb mit schwarzem Humor
„Simpsons“-Jubiläumschau in Dortmund – Ruhrkunst 10/24
„Weibliche und globale Perspektiven einbeziehen“
Direktorin Regina Selter über „Tell these people who I am“ im Dortmunder Museum Ostwall – Sammlung 10/24
Die Drei aus Bochum
CityArtists in der Wasserburg Kemnade – Ruhrkunst 09/24
„Jeder Besuch ist maßgeschneidert“
Britta Peters von Urbane Künste Ruhr über die Grand Snail Tour durch das Ruhrgebiet – Sammlung 09/24
Denkinseln im Salzlager
Osteuropäische Utopien in Essen – Ruhrkunst 08/24
Ausgezeichnet auf Papier
Günter Drebusch-Preis 2023 in Witten – Ruhrkunst 08/24
Räume und Zeiten
Eindrucksvoll: Theresa Weber im Kunstmuseum Bochum – kunst & gut 08/24