trailer: Frau Käßmann, die Kirchenaustritte aus der katholischen Kirche prägen die Schlagzeilen, aber auch die evangelische Kirche verliert Mitglieder. Wovon sind evangelische Christen enttäuscht?
Margot Käßmann: Statistisch gesehen gibt auch in der evangelischen Kirche die Mehrheit eine Unzufriedenheit mit der Institution Kirche als Grund für ihren Austritt an. Aber sicher ist es auch so dass, obwohl es den Menschen gar nicht so bewusst ist, eine theologische Frage dahinter steckt. In der katholischen Kirche ist die Kirche selbst Heilsmittlerin, also Ex Ecclesiam nulla Salus: Außerhalb der Kirche hast du keinen Zugang zum Heil, das Gott vermittelt. Luther hat das theologisch deutlich verändert, indem er die Kirche als Zusammenschluss freier Glaubender definiert hat. Den Zugang zu Gott aber kann auch jeder Mensch individuell finden. Das spielt im Hintergrund bei der evangelischen Kirche durchaus eine Rolle.
Laut Soziologen ist aber ganz stark der Traditionsabbruch verantwortlich: Die Menschen wachsen nicht mehr in einer kirchlichen Tradition auf. Gottesdienst, Konfirmation, Rituale wie Gebet werden in den Familien nicht mehr weitergegeben. Das ist sicher ein Grund, den die Kirche auch kaum auffangen kann. Und natürlich die Individualisierung – dieser Gedanke, „warum soll ich mich an eine Institution binden“? Das trifft nicht nur die Kirchen, sondern auch Parteien, Gewerkschaften, Vereine. Wenn ich mich in der evangelischen Kirche umhöre, dann treten auf der einen Seite Konservative oft aus, weil ihnen die Kirche zu politisch ist, sich also zu stark in politischen Fragen positioniert, und auf der anderen Seite die ganz Liberalen, die sagen, sie binden sich nicht an eine Institution, die bestimmte Lebens- oder Grundwerte vorgibt.
„Warum soll ich mich an eine Institution binden?“
Global gesehen sitzen die Weltreligionen hingegen fest im Sattel. Wie lässt sich diese Diskrepanz erklären?
Natürlich durch die Säkularisierung, das sehen wir doch auch in den USA – auch dort ist die kirchliche, oder religiöse Bindung in den vergangenen 20 Jahren drastisch gefallen. Ich war vor wenigen Jahren auf einer Dienstreise bei der lutherischen Kirche in Tansania, neben der Äthiopiens eine der am schnellsten wachsenden lutherischen Kirchen. Dort habe ich erzählt, dass in Eisleben, wo Luther geboren und getauft wurde, nur noch sieben Prozent der Menschen Mitglied einer Kirche sind – und die tansanischen Bischöfe haben mich gefragt, was glauben denn die anderen 93 Prozent? Denn der Mensch müsse doch an irgendetwas Transzendentes glauben. Dieser Gedanke ist in Afrika noch ganz stark präsent, in den säkularisierteren Gegenden der Welt eben nicht mehr. In Asien, habe ich den Eindruck, ist die Lage interessanterweise anders: In China etwa ist es eine Frage der Individualität, christlich zu glauben. Unter einem Regime, das sich kommunistisch definiert, liegt darin eine Wertschätzung des Einzelnen – wenn alles gleich ist, bin ich als Christin sehr individuell anders. Im Westen streben wir Individualität an, indem wir uns nicht an eine Religion binden und dort entsteht eine Individualität aus dem Moment des „Ich glaube“ heraus – ich bin als Person wichtig, als Einzelperson.
„In China ist es eine Frage der Individualität, christlich zu glauben“
Das Bedürfnis nach Spiritualität gibt es nach wie vor auch im Westen. Was verbindet Menschen, die sie in Freikirchen, in der Konvertierung, oder in Yoga-Kursen suchen?
Ich denke, dass der Mensch auch in einer sehr materialistischen Welt in sich selbst doch diese Sehnsucht nach Transzendenz hat – über das Erklärbare, das Fassbare hinaus. Eine Wirklichkeit zu erahnen, die über das Vorfindliche hinausgeht: Da muss doch mehr sein, als jeden Tag zur Arbeit zu gehen, meine Kinder zu erziehen, meine Wohnung abzubezahlen. Das ist schon eine grundsätzliche Sehnsucht im Menschen, wenn er nachdenkt. Ich plädiere dafür, dass jeder Mensch mindestens einmal über die Gottesfrage nachdenkt. Dann kann man sich dafür oder dagegen entscheiden, aber ich denke, es gehört zum Menschsein dazu, einmal zu fragen: Ist da mehr als das Vorfindliche? Diese Suche ist für viele eine Suche nach sich selbst, sie empfinden das in sich selbst – was mir persönlich eher fremd ist, weil ich als Christin dieses Mehr außerhalb finde, in einem Gottesgeschehen, das sich nicht in mir abspielt.
Vielfach werden auch strengere Auslegungen religiöser Lehren versucht und gesucht. Welche Sehnsucht steckt dahinter?
Das ist eben auch das Menschliche: In einer wirklich unübersichtlichen Welt, die mich irritiert, bei der ich Antworten so vielfältiger Art bekomme, gibt es auch eine Sehnsucht nach der einfachen Antwort. Das sieht man auch an der Querdenker-Bewegung – wenn Bill Gates an allem Schuld ist, ist es einfacher zu erklären, was gerade passiert. In der Netflix-Serie „Unorthodox“ gibt es eine Szene, die für mich total spannend war: Die Protagonistin kommt aus engsten Raum, der jüdischen Orthodoxie in diesem Fall, und sieht zum ersten Mal einen Computer. Ein junger Mann hilft ihr dabei eine Frage einzugeben – und er soll tippen, „Gibt es Gott?“ Da kommen Tausende von Antworten und sie fragt, warum ist da nicht nur eine Antwort? und er sagt: Es gibt viele Antworten aber du musst deine finden. Ich erlebe im Gespräch mit fundamentalistischen Christen, dass sie sagen: „So steht es in der Bibel“. Wenn ich dann zu bedenken gebe, dass die Bibel eine Übersetzung ist, ist ihnen das schon zu viel. Sie wollen einfache Antworten, das ist sicherer, eine gefühlte Sicherheit.
„Es gehört zum Menschsein dazu, zu fragen: Ist da mehr als das Vorfindliche?“
Viele der Ausgetretenen geben an, nicht ihren Glauben verloren zu haben, sondern nur den Glauben an die Institution Kirche. Braucht Glauben eine Institution?
Natürlich gibt es Glauben ohne Institution, aber es ist auch so, dass Glaube – ich kann jetzt nur aus der Kompetenz des Christentums sprechen – in einer Tradition steht, einer Tradition von Narrativen. Die biblischen Geschichten verbinden uns weltweit. Ich kann in Indonesien, oder Brasilien oder Simbabwe „Gethsemane“ sagen, und es ist eine Verbindung da, eine gemeinsame Erzählung. Das ist in einer globalisierten Welt auch oft sehr schön – du kommst in ein Land, du betrittst eine Kirche und du bist zuhause, denn das Narrativ verbindet uns und das natürlich über Generationen. Es ist der Glaube, den wir von unseren Müttern und Vätern ererbt haben und damit auch Rituale, die ja Geländer im Leben sind. Ich habe den Eindruck, wenn Menschen die Rituale nicht mehr kennen, wenn sie die Tradition der Erzählung nicht mehr kennen, dann ist es ein sehr diffuser Glaube. Und natürlich lässt sich so kein theologisches Gespräch über Auslegungsfragen mehr führen, was ich gerade am Christentum schätze, denn Luther hat mit seiner Übersetzung der Bibel in die Volkssprache gesagt, „Du darfst selbst lesen“, sollst sogar selbst lesen. Denken gehört zum Glauben dazu, Zweifeln gehört zum Glauben dazu, und das geht nur in einer Gemeinschaft. Glaube ist meiner Ansicht nach eine Gemeinschaftserfahrung.
„Zweifeln gehört zum Glauben dazu“
Wie entscheidend ist diese Gemeinschaftserfahrung?
Ich schätze die Bedeutung sehr hoch ein. Zum einen, wie gesagt, in der Tradierung – meine Großmutter und meine Mutter haben eine große Bedeutung in der Weitergabe des Glaubens an mich gespielt, aber auch meine Kirchengemeinde, meine Kirche. Das steckte von Anfang an im Christentum: Jesus hat sich an den Tisch gesetzt, Brot und Wein geteilt und über Gott und die Welt geredet - das ist geradezu ein Symbol für das Christentum. Das hat eine spirituelle Dimension, aber natürlich auch das gemeinsame Hören, Reden und die Fürsorge für andere waren schon für das frühe Christentum ein Kennzeichen. Dass in frühester Zeit beispielsweise Sklaven bestattet wurden, das war für damalige Verhältnisse erstaunlich – es wurde sogar für die Schwächsten gesorgt. Das hat eine spirituelle, aber auch soziale Dimension für mich. Ich brauche das – oder besser, für mich ist Gemeinschaft konstitutiv für meinen Glauben.
„Es ist immer wieder ein neuer Prozess“
Andererseits: Entspricht die bewusste Entscheidung für einen Glauben nicht viel eher dem Kern der monotheistischen Religionen?
Es gibt evangelikale Christen, die fragen nach dem Moment der Erleuchtung. Daran denke ich nicht, man wird immer wieder Zweifel haben, das gehört für mich dazu. Es ist wie beim Dreimeterbrett: Die Frage ob du springst oder nicht, ist eine Vertrauensfrage. Für mich ist es eine Frage des Vertrauens in die Tradition meiner Väter und Mütter. Ich vertraue manchmal auch gegen das, was sichtbar und hinterfragbar ist. Es ist immer wieder ein neuer Prozess und der verändert sich auch mit dem Lebensalter. Wenn sich Erwachsene oder auch ältere Kinder taufen oder konfirmieren lassen, dann treffen sie Entscheidungen, aber die werden eben nicht allen Zweifel ausmerzen können. Mich hatte eine Frau in Dresden angesprochen: Sie habe sich über lange Zeit dem Glauben angenähert, traue sich aber nicht, sich taufen zu lassen, weil ihr Glaube immer noch nicht vollständig gefestigt sei. Und ich sagte ihr, das wird nie so sein. Glaube ist am Ende ein Vertrauen, dass es Gott gibt.
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