Ein Riss geht durch diese Inszenierung. Das deutet sich schon zu Beginn an. Der Herold, der die Cinemascope-Bühne in der Jahrhunderthalle tänzelnd und feixend betritt, sucht erst einmal den Kontakt zum Publikum in der ersten Reihe. Er gibt sich jovial, als wäre er einer von uns. Aber die ganze Zeit umspielt ein zynisches Lächeln seine Lippen. Die Späße, die er mit einigen Zuschauern treibt, sind nicht aus Kameraderie geboren, sie zeugen eher von einer kaum verhohlenen Herablassung. Der Bariton Georg Nigl spielt diesen Verkünder schlechter Nachrichten ebenso wie später auch den Oberpriester des Apollo als Trickster-Figur. Er treibt seinen Schabernack mit dem Publikum ebenso wie mit dem vom Musica aeterna-Chor verkörperten Volk von Pherai. Die Trauer und das Entsetzen, die Nigls – im Kontext dieser Inszenierung, in der er auch noch in der Rolle des rettenden Gottes Apollo in Erscheinung treten wird, darf man es ruhig schreiben – göttliche Stimme erfüllen, wenn der Herold vom Zustand des kranken Königs Admeto berichtet, werden sofort wieder von seinem Spiel unterlaufen.
Die Leiden Admetos und die Nöte seiner Königin Alceste verbreiten in Johan Simons‘ jedes Pathos vermeidender Inszenierung eben nicht nur Angst und Mitleid. Es schafft auch ein Machtvakuum, und das wird Nigls Oberpriester geschickt für sich nutzen, wenn er der von Birgitte Christensen verkörperten Königin das Orakel verkündet: Admeto ist noch zu retten, doch dafür verlangen die Götter ein großes Opfer. Jemand muss anstelle des Königs sterben, sich für den Herrscher und das Schicksal von ganz Thessalien aufopfern. Als das Volk dies wenig später vernimmt, kommt mit einmal Bewegung in den bisher eher statischen Chor. Hatten dessen Mitglieder zuvor teils apathisch in den weißen Plastikstühlen gelegen, die Leo de Nijs‘ Bühnenbild dominieren, sehen sie nun zu, so schnell wie möglich die Bühne zu verlassen. Das Leben selbst in großer Gefahr ist ihnen doch lieber als der Tod für eine höhere Sache. Also singen sie gemeinsam: „Sorgen, Leidenschaften, Ängste und Verdächtigungen sind die Tyrannen der Könige.“ Das Leben in der großen machtlosen Masse hat halt doch etwas für sich.
Ein Riss geht, wie erwähnt, durch die Inszenierung. Natürlich stellt Johan Simons die Bürger von Pherai in diesem Augenblick bloß. Wie sie zu Beginn jammern, natürlich im schönsten und wunderbar erhabenen Chorklang, weil die vor den Toren des Landes stehenden Feinde Thessaliens nach dem Tod Admetos ihres Triumphes sicher sein können, und wie sie dann, als sich ihnen die Chance bietet, Helden zu werden, flüchten. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille, und Simons inszeniert die andere immer auch mit. Wer bereit ist, sein Leben für einen König zu geben, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal aufgetreten ist, der wäre vielleicht auch zu einem Selbstmordattentat fähig. Ist die Feigheit der Bürger nun Schwäche oder doch eine Form von Vernunft?
Diese Frage steht letztlich im Zentrum von Simons‘ Lesart der Gluck‘schen Oper. Und die gilt vor allem in der frühen italienischen Fassung, auf die der Dirigent René Jacobs den Regisseur und Ruhrtriennale-Intendanten aufmerksam gemacht hat, als „Reformoper“, also als ein Werk, das sich dezidiert gegen den schönen Zierrat und Bombast früherer Barockopern wendet. Wo zuvor die große Geste und der höfische Pomp den Ton angaben, wendet Christoph Willibald Gluck seinen Blick auf das Innere der Figuren, die er aus Euripides‘ Satyrspiel „Alkestis“ entlehnt hat. Äußerlich betrachtet, geschieht kaum etwas in dieser Tragödie, die ein echter Deus ex machina dann doch noch zum Guten wendet. Das Drama findet im Innern statt, in den Seelen und Köpfen von Alceste und Admeto. Die Königin trifft recht schnell die Entscheidung, für ihre Liebe in den Tod zu gehen. Welch höheren Beweis ihrer Gefühle für Admeto könnte sie auch geben? Nur ist Birgitte Christensens Königin, die einen stimmlich die unendlichen Nuancen erfahren lässt, die zwischen edler Selbstverleugnung und bitterem Schmerz, zwischen höchsten Gefühlen und kleinlichsten Ängsten liegen, keine Liebesfanatikerin. Sie bleibt bis zum Ende eine Zweifelnde, eine im wahrsten Sinne Irrende, die ständig von einer Ecke der riesigen Bühne zur anderen eilt.
Für die Liebe sterben, mag ein Ideal sein. Aber wenn es zur greifbaren Realität wird, stürzt es den Menschen in eine tiefe Krise und nicht nur den, der bereit ist, sein Leben zu geben. Wie Alceste gerät auch der wundersam geheilte Admeto, dem der Tenor Thomas Walker sowohl in seinen emotionalen Ausbrüchen als auch in Momenten des Beinahe-Verstummens eine beeindruckende Wucht verleiht, in hellsten Aufruhr. Nichts ergibt mehr einen Sinn, weder das Handeln der Götter noch die Liebe unter den Menschen. Allerdings ist fortwährend eine Sehnsucht nach etwas Höherem präsent. Natürlich in der Musik, der das etwa in der Mitte der Spielfläche, gegenüber dem Zuschauerblock auf der Längsseite platzierte B‘Rock Orchestra unter der zupackenden und zugleich feinsinnigen Leitung René Jacobs‘ eine enorme Dringlichkeit verleiht. Der Klang, den sie den alten Instrumenten entlocken, ist schillernd, voller widerstrebender Stimmungen und in seiner Direktheit überraschend modern. Aber auch in Simons‘ Inszenierung sind die Lockungen des Glaubens zu erahnen.
Als schließlich Apollo auftritt, strömt göttliches Licht durch die große Fensterwand am Ende der breiten Bühne. Führt uns Gottes Licht oder blendet es uns? Diese Frage, die einst der Filmemacher Alejandro González Iñárritu in seinem Segment des Episodenfilms „11’09’’01 – September 11“ gestellt hat, steht im riesigen Raum der Jahrhunderthalle. Die glückliche Vereinigung der Liebenden findet nicht wie bei Gluck in Thessalien statt. Alceste kehrt nicht zurück, dafür geht Admeto ab. Im Hades finden sie einander wieder. Nur ihre beiden Kinder bleiben zurück. Zunächst lockt sie das göttliche Licht an, doch dann wenden sie sich ab und tollen befreit über die Bühne. Der Riss zwischen dem Hoffen-Wollen und dem nicht Glauben-Können ist nicht mehr zu kitten. Aber vielleicht erwächst gerade daraus eine neue Freiheit, zu der die Königskinder intuitiv finden. Weder im Hoffen noch im Glauben liegt der Ausweg für das Europa, das Simons in seinem „Seid umschlungen“, dem Motto auch dieser Ruhrtriennale, und in seiner Inszenierung heraufbeschwört. Wer sich nicht ans Höhere klammert und Erlösung ersehnt, kann einfach handeln.
„Alceste“ | R: Johan Simons | Musikalische Leitung: René Jacobs | Sa 20.8., Do 25.8., Sa 27.8. je 20 Uhr, So 21.8., So 28.8. je 17 Uhr | Jahrhunderthalle Bochum | www.ruhrtriennale.de/de/produktionen/alceste
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