trailer: Herr Alekseenok, Sie stammen aus Belarus und haben viel in der Ukraine gearbeitet. Wenn Sie an Ihre Heimat denken, was fühlen Sie da gerade?
Vitali Alekseenok: Es ist ein komplexes Gefühl: Trauer und Verzweiflung, aber mit viel Hoffnung für die Zukunft. Ich hoffe, dass die schlimmen Zeiten vorbeigehen. Auch Verbrecher und Diktatoren müssen einmal diese Erde verlassen. Ich hoffe auf die Demokratie.
Sie haben in Ihrer Heimat, in St. Petersburg und in Weimar studiert. Welche Unterschiede in der Ausbildung haben Sie festgestellt?
In Minsk habe ich mit Posaune und Dirigieren begonnen. Es gab kaum einen Unterschied zu St. Petersburg, nur das Niveau dort war höher. Aber der Unterschied zwischen Russland und Deutschland ist enorm, zum Beispiel durch die Module, die man im Studium selbst wählen kann. Das ist in Osteuropa unmöglich, dort wird einem alles vorgeschrieben. Im deutschen System lernt man, kritisch zu denken. Es motiviert, über den künftigen Beruf nachzudenken. Was muss ich lernen, was werde ich später brauchen? Das Studium in Weimar war fantastisch. Wir hatten sehr viel Praxis: Instrumentalspiel, Gesang, Chor, Sprecherziehung und natürlich Orchesterpraxis oder Psychologie des Zusammenspiels. So habe ich viele Anfängerfehler schon im Studium und nicht erst in der Berufspraxis gemacht.
Ihre ersten Erfahrungen?
In Minsk habe ich im Studium zum ersten Mal ein Orchester dirigiert – mit Sergej Prokofjews Siebter Sinfonie. Ich habe das so genossen, es ist eine großartige Musik, die hier kaum jemand kennt, einfach und tief zugleich. Das hat mir wichtige Impulse gegeben. Die erste Oper war 2018 „Don Giovanni“ Sewerodonezk in der Ukraine, das schon damals Kriegsgebiet war. Ein internationales Projekt, bei dem übrigens Konstantin Krimmel sein Debüt als Leporello gegeben hat. Heute ist er Ensemblemitglied an der Bayerischen Staatsoper.
Ihr erstes Engagement?
Das kann ich so gar nicht sagen, denn ich habe schon als Student in St. Petersburg und Weimar viele Projekte mitgemacht. Meinen ersten Vertrag hatte ich für ein Projekt in der Ukraine. 2018 war ich dann am Theater an der Wien als Studienleiter für Tschaikowskys „Die Jungfrau von Orleans“ engagiert. Den ersten festen Vertrag bekam ich als Kapellmeister an der Deutschen Oper am Rhein.
Wenn Sie sich selbst einschätzen: Sind Sie mehr ein Opern- oder ein Konzertdirigent?
Ich kämpfe immer damit, wo mein Schwerpunkt liegt. Das ist mal so, mal so. Die Sinfonik, mit der ich angefangen habe, hat mir den Impuls gegeben, Dirigent zu werden. Sehr früh erwachte aber auch mein Interesse an der Oper. Als Jugendlicher habe ich Bücher des Dirigenten Kirill Kondraschin gelesen und damals schon seine Ratschläge aufgenommen, dass es nämlich wichtig ist für die künstlerische Entwicklung, Oper zu dirigieren. Mit Sechzehn habe ich den Opern von Verdi genau zugehört. Sie haben eine große Sehnsucht in mir hinterlassen.
Hier in Düsseldorf sind Sie ab nächster Spielzeit vor allem in der Oper tätig.
Ich habe hier keine Konzertverpflichtung und beschäftige mich fast ausschließlich mit der Oper. Ich versuche hier sehr viel Zeit zu investieren. Konzerte dirigiere ich außerhalb als Gast.
Sie wachsen jetzt in Leitungserfahrung hinein als Chefdirigent. Ist das für Sie neu?
Ich bin künstlerischer Leiter eines Musikfestivals in Charkiv in der Ukraine. Dadurch bin ich es gewohnt, Entscheidungen zu treffen. Aber in dieser Größenordnung ist das meine erste Chefstelle und damit eine große Aufgabe. Ich bin mir der Bedeutung und der Verantwortung durchaus bewusst.
Kommen Sie denn mit der deutschen Bürokratie zurecht?
Das kommt darauf an. Nicht immer (lacht). Das System braucht lange, funktioniert aber meistens am Ende bestens.
Sind Sie auch für Besetzungen und die Verpflichtung von Sängern zuständig?
Verpflichtungen nicht, ich entscheide nicht über Verträge. Das ist Sache der Intendanz und der Operndirektion.
Sie dirigieren jetzt eine Uraufführung, die „Septembersonate“ von Manfred Trojahn. Was ist das für eine Musik?
Trojahn schrieb eine Kammeroper, weil das Sujet kammermusikalisch angelegt ist. Es geht um zwei Menschen, die sich nach langer Zeit wieder begegnen und Möglichkeiten des gelebten Lebens reflektieren. Das Stück hat wenig Handlung, ist introvertiert, sehr emotional. Für diesen Blick nach innen umfasst das Orchester nur 15 Musiker. Die Instrumentierung ist raffiniert, fein und zerbrechlich. Es wird ein Erlebnis, in das man eintauchen muss. Für mich ist es ein unglaublich spannendes Gefühl, ein neues Stück in der Hand zu haben, das noch nie erklungen ist. Das ist wie die Mitwirkung an einem Schaffensprozess: Wir bringen das Stück zum Klingen. Ich habe schon Erfahrungen mit Opern-Uraufführungen gesammelt. Kürzlich erst habe ich im Barbican Centre in London ein neues Werk der belarussischen Komponistin Olga Podgajska geleitet. 2022 dirigierte ich eine Uraufführung an der Scala in Mailand: „Der kleine Prinz“ von Pierangelo Valtinoni.
Wie ist denn die Komponistenszene in Ihrer Heimat aufgestellt? Gibt es in Belarus und in der Ukraine viele Uraufführungen?
In der Ukraine ja. In Belarus ist die Szene kleiner. Dort herrscht seit Jahrzehnten Diktatur, das spürt man in allen Facetten des täglichen Lebens, auch in der Kunst. Es ist schwer, dort als freier Künstler zu überleben oder große Werke auf die Beine zu stellen. Es ist auch schwer für Menschen, sich zu öffnen und kreativ zu arbeiten, weil die diktatorische Denkweise auch den Geschmack bestimmt. Die Ukraine ist ganz anders. Es gibt sehr verschiedene Traditionen und mehrere Zentren im Land. Es gibt junge Komponisten, die neue Impulse im Ausland erhielten, zum Beispiel von der französischen Spektralmusik, daneben aber auch traditionelle und melodische Kompositionen. Sie werden auch in musikalischen Zentren in Europa gespielt, etwa in Wien und Amsterdam. Die Met hat für 2027 eine Uraufführung eines ukrainischen Komponisten angekündigt.
Wenn Sie wählen könnten: Haben Sie einen bevorzugten Komponisten, Musikstil oder eine Epoche?
Nein, ich mag eigentlich alles außer Musical. Operette habe ich nie gemacht, aber sie interessiert mich sehr. Ich habe selbst gregorianischen Choral gesungen, Madrigale von Claudio Monteverdi aufgeführt und ein bisschen Cembalo gespielt. Renaissance-Polyphonie liebe ich, auch wenn ich sie als Dirigent nicht aufführe. Aber diese Musik ist für mich wie ein Flucht- oder Ruheort.
Würden Sie also Renaissancemusik mitnehmen auf die „einsame Insel“, wenn Sie auswählen müssten?
Das weiß ich nicht, vielleicht auch das „Musikalische Opfer“ oder die h-Moll-Messe von Bach.
Gibt es ein Werk, das Sie unbedingt mal dirigieren möchten?
Ja, Mahlers Dritte Sinfonie. In der Oper gibt es so viel ... Ich würde gerne Monteverdis „Orfeo“ aufführen oder „Lady Macbeth von Mzensk“ von Dmitri Schostakowitsch. Ein Wunsch ging mir kürzlich im Opernhaus Düsseldorf in Erfüllung: Ich konnte Tschaikowskys „Die Jungfrau von Orleans“ dirigieren.
Septembersonate | 3. (UA), 9., 14., 29.12., 3., 4., 27.1. | Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf | 0211 892 52 10
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