Alle Menschen werden Brüder. Diese Vision schien Wirklichkeit zu werden, als zehntausende Menschen in der Arena AufSchalke beim Festival !SING Beethovens Megahit intonierten. Der 5. Juni 2010 geriet zum Sommernachtstraum für viele Ruhrgebietler. Noch mehr beförderte gut einen Monat später das gemeinsame Frühstück einer ganzen Region auf Deutschlands längstem Parkplatz, der A40, das Gefühl, irgendwie der Nabel Europas zu sein. Die Kulturhauptstadt RUHR.2010 sollte aber nicht nur innerhalb eines Jahres ein Feuerwerk spektakulärer Veranstaltungen abbrennen, sondern nachhaltig wirken. Früher wurde hier Kohle gefördert, nun Kultur, so die offizielle Sprechweise der Verantwortlichen. Doch was ist aus der Aufbruchsstimmung von vor drei Jahren geworden?
Die Leuchttürme, die damals errichtet, oder besser formuliert, renoviert wurden, wirken zuweilen etwas verlassen. Die Zeche Zollverein, die mit ihren weiten Flächen einst Tausenden von Bergleuten Platz bot, kann auf Dauer nicht von einer ähnlich großen Zahl von Kulturbeflissenen bevölkert werden. Trotz vieler interessanter Angebote fühlt sich der Besucher auf dem Areal im Essener Norden zuweilen etwas verlassen. Ähnlich ergeht es denen, die am nordwestlichen Zipfel der Dortmunder Innenstadt das U besuchen. Die einstige Brauerei beherbergt einen Mix aus Museum, Hochschule und Disco. Das nahegelegene Einkaufszentrum, die Thier Galerie, ist sehr viel mehr bevölkert als der sogenannte Hot Spot der urbanen Stadtkultur, das Dortmunder U.
Nicht jeder arbeitslos gewordene Stahlarbeiter kann zum Designer umgeschult werden
Damit das Kulturhauptstadtjahr nachhaltig wirken kann, erklärten dessen Macher die Kreativwirtschaft zu einer Wunderwaffe, die den erneuten Strukturwandel im Revier vollziehen sollte. Nachdem vor allem Kohlezechen und Stahlindustrie schlossen, setzten wenig später durch Rationalisierung gerade die großen Dienstleistungsunternehmen wie Banken und Versicherungen ihre Mitarbeiter auf die Straße. Wer braucht schon einen Bankangestellten, wenn man sich doch einen Bankautomaten in den Eingang stellen kann? Wieder mussten für viele freigesetzte Menschen neue Arbeitsplätze und Perspektiven gefunden werden. Da kam der Hype um die Kreativwirtschaft gerade recht. Vor dem Platzen der Dotcom-Blase zur Jahrtausendwende war die Kreativwirtschaft vor allem ein gehätscheltes Kind europäischer Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder oder Tony Blair. Aber auch nach dem Börsencrash wollte jeder Oberschulabgänger irgendwas mit Kreativwirtschaft machen. Tatsächlich verzeichnete jene Branche vor zehn Jahren erhebliche Zuwachsraten, allerdings eher in anderen Bundesländern, und in NRW eher in anderen Landesteilen. Die Filmwirtschaft war und ist in Berlin und München zu Hause. Die Werbewirtschaft hat sich in Hamburg und Düsseldorf breitgemacht. Das Fernsehen kommt aus Köln. Das Ruhrgebiet konnte sich, sieht man von ein paar mittelständischen Unternehmen im Bereich der Spiele-Entwickler ab, bislang kein nennenswert großes Stück aus dem Kreativwirtschafts-Kuchen herausschneiden. Das Dortmunder Planungsbüro STADTart veröffentlichte 2007 folgende Zahlen: In NRW kamen auf 1.000 Einwohner 10,2 Menschen, die in der Kreativwirtschaft arbeiteten. In Köln waren es stolze 30,9, in Düsseldorf sogar 32,6. Und im Ruhrgebiet? Dortmund schaffte in der Statistik den Wert 8,4, Duisburg nur 5,1. Das regionale Gefälle ist also enorm. In Düsseldorf arbeiten über sechsmal mehr Kreative als in der nördlichen Nachbarschaft. Nicht jeder arbeitslos gewordene Stahlarbeiter kann, so lässt sich aus den Zahlen erahnen, zum Designer umgeschult werden. Entscheidender noch erscheint aber die geringe Nachfrage nach Kulturgütern. Der Bildungsbürger aus Köln und Düsseldorf hat den Willen und das Geld, Kultur zu konsumieren. Der durchschnittliche Einwohner einer durchschnittlichen Stadt im Ruhrgebiet hat diese Interessen und Möglichkeiten eher nicht. Aber vielleicht liegt gerade darin das Wachstumspotential des schlummernden Riesen.
Was geschähe, wenn die über 5 Millionen Menschen hier ihre Kulturgüter nicht als Massenware, sondern als individuelle Einzelstücke konsumierten? Statt in Textildiscountern und Outlets kann Kleidung auch in kleinen Boutiquen (zu freilich geringeren Stückzahlen von wahrscheinlich aber höherer Qualität) erworben werden. Statt Hits aus den Charts kann auch Musik von kleinen, eher unbekannten Bands gehört werden. Und statt „GZSZ“ oder „Berlin Tag & Nacht“ zu verfolgen, tut es doch auch ein zeitgenössisch bearbeiteter Schiller im nächsten Theater. Der Konsument muss nur seine Konsumgewohnheiten verändern, und schon verändert sich die Welt, oder in diesem Fall eben das Ruhrgebiet. Und die Chancen stehen gar nicht mal so schlecht. Die Einstellung zu kreativen Gütern hat sich inzwischen beim Bundesbürger geändert. Er ist, so belegen aktuelle Untersuchungen, inzwischen wieder bereit, für Kultur etwas zu bezahlen. Wenn die jungen wilden Kreativen aus diesen Gründen hier blieben, statt als Goldgräber Richtung El Dorado, sprich Düsseldorf, Köln oder Berlin auszuwandern, könnte tatsächlich die kulturell vielseitige und spannende Metropole Ruhr entstehen, die sich RUHR.2010 vor drei Jahren herbeiwünschte.
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