Bochum, 04. November – Zwei Tage vor der Filmvorführung von „Wir haben es doch erlebt“ im Endstation.Kino in Bochum-Langendreer jährte sich die Auflösung des Rigaer Ghettos zum 70. Mal. Nach einer vorhergegangenen Selektion werden Alte, Kinder und Kranke in Rigas Vorstadtbahnhof Skirotava in zwei Züge gedrängt. Ziel Auschwitz. Die Hälfte der Insassen kommt bereits auf dem Weg während eines Fliegerangriffs ums Leben. Von denen, die in Auschwitz noch lebend ankommen, werden 1326 Menschen sofort vergast. Viele von ihnen kommen aus dem Ruhrgebiet und nächster Umgebung. Die Abtransporte aus den Ruhrgebietsstätten gen Riga und die Deportationen nach Auschwitz sind dokumentiert und bekannt, dennoch herrscht kaum Bewusstsein darüber, was vor über 70 Jahren vor der eigenen Haustür geschehen ist. Die Dokumentation „Wir haben es doch überlebt“ von Jürgen Hobrecht erinnert an die Opfer dieser Zeit.
Neun Überlebende des Rigaer Ghettos kommen zu Wort, schildern ihre Entrechtung, ihre Verfolgung, ihr Elend und berichten von der massenhaften Hinrichtung im Wald von Bikernieki, dem Hochwald von Riga, in dem Zehntausende Juden sowie Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer in der Zeit von 1941 bis 1944 ermordet wurden. Seit 2001 erinnert eine Gedenkstätte an die Massenhinrichtung. Doch mit der Befreiung durch die Rote Armee hörten die Gräuel nicht auf, erzählen die Überlebenden. Lettische Juden sahen sich mit dem absurden Vorwurf der Kollaboration konfrontiert. Wer dem Terror des NS-Regimes entkommen sei, müsse mit diesem kollaboriert haben, argumentierten die Sowjets und führten den Terror weiter.
Die Geschichte des lettisch-jüdischen Ghettos Riga gehöre auch zur Geschichte des Ruhrgebiets im Dritten Reich, finde aber kaum Beachtung, werde selbst in den Schulen nicht besprochen, kritisierten die Zuschauer im Endstation.Kino im Anschluss an die Vorführung der Dokumentation. Über Bochum und Dortmund wurden unzählige Juden nach Osteuropa deportiert, doch kaum jemand mache auf diese Verbrechen aufmerksam. Dass der Wunsch nach der Auseinandersetzung mit dieser dunklen Vergangenheit jedoch besteht, zeigten der gefüllte Kinosaal und die anschließende Gesprächsbereitschaft.
Einige der Zuschauer waren selbst nach Riga gereist und hatten die Gedenkstätte im Wald von Bikernieki besucht. Sie berichteten von einer zwiegespaltenen Rezeption in Lettland. Denn auch wie die Geschichte des Ghettos nun vor Ort wahrgenommen werde, interessierte viele Zuschauer. Von einem starken Bewusstsein bis zu der Verärgerung, warum sich Besucher denn für diese Geschichte interessierten, wussten die Gefragten zu erzählen. Auch in Lettland hatten sich Engagierte für die Aufarbeitung der Massenhinrichtung sowie des Ghettos stark gemacht und die Gedenkstätte mitinitiiert, das stehe außer Frage. Andere Litauer dagegen scheren sich nicht um diesen Teil der NS-Geschichte, der aufgrund von Kollaboration auch die ihre ist, und möchten nicht, dass die Gedenkstätte Anlass für einen Besuch ihres Landes ist. Sowohl die Unwissenheit hierzulande als auch die Verärgerung dortzulande verdeutlichen, dass die Aufarbeitung der Judenverfolgung entgegen dem Stöhnen, dass doch mal genug sein müsse, noch längst nicht abgeschlossen ist.
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