Regiearbeiten fürs Theater sind selten Werke für die Ewigkeit. Wer alte Stoffe in die Gegenwart holt, muss damit leben, dass die Aktualisierungen meist schnell wieder vom Zeitgeist überholt werden. Und fade Kostümschinken bieten kaum eine Alternative für Regisseure, die etwas auf sich halten. Wie der ideale Kompromiss aussehen kann, der gleichermaßen Konservative wie Freunde modernen Regietheaters zu begeistern vermag, hat der Kanadier Robert Carsen an den großen europäischen Opernhäusern bereits in den 90ern gezeigt. Er reduzierte die Handlungen auf ihren essentiellen Kern und schuf dabei im Wortsinn zeitlose Produktionen, die bis heute erfolgreich sind, weil sie immer wieder recycled werden. So zeigte die Kölner Oper 2008 eine „Katja Kabanowa“, die Carsen vier Jahre zuvor in Antwerpen inszeniert hatte, und die Rheinoper 2010 eine „Bohème“, die er 1993 schon auf die Bühne gebracht hatte. Die Essener Aalto-Oper reiht sich nun mit einer dritten nordrhein-westfälischen Übernahme von der Vlaamse Opera ein: Carsens Straßburger „Jenůfa“ von 1999. Ganz zufällig fiel diese Wahl sicher nicht. Essens neuer Intendant Hein Mulders war seinerzeit Casting-Direktor der Produktion. Den Regiestar Carsen hat das Essener Publikum indes nicht einmal bei der Premiere zu sehen bekommen. Für die „szenische Einstudierung“ hat er seine Assistentin Maria Lamont an die Ruhr entsandt.
Die sparsame, aber durchaus wirkungsvolle Ausstattung von Patrick Kinmonth scheint geradezu auf den Export der Produktion angelegt worden zu sein. Neben einer Ladung Torf, die die Spielfläche bedeckt, kommt er im Wesentlichen mit einem Sammelsurium an alten Türen aus, die sich vom Chor zu flexiblen Begrenzungen umbauen lassen. Zur Vermittlung einer hinterwäldlerischen Provinz und gesellschaftlicher Enge reichen diese Requisiten durchaus – zumal die Personenführung spätestens im zweiten Akt sehr präzise funktioniert.
Sandra Janušaitė entspricht als Jenůfa nicht dem üblichen Bild der aufreizenden Dorfschönen; die Kostümwerkstatt hat sie eher unscheinbar ausgestattet. Ihr Sopran indes klingt durchaus mädchenhaft und anmutig. Ihre großen Szenen gelingen ihr überaus anrührend, und sie entfesselt zunehmend eine dramatische Kraft, die mitzureißen vermag. Auch Katrin Kapplusch, die Küsterin und spätere Mörderin des unehelichen Kindes von Jenůfa, führt die Regie zunächst als unscheinbare Erscheinung ein. Auch sie entwickelt im zweiten Akt ein schärferes Charakterprofil – in seiner Widersprüchlichkeit vielleicht das interessanteste der ganzen Handlung. Kapplusch ist keine eindimensionale Böse, sie erweckt durchaus auch Mitleid. Für Essens neuen GMD, den Tschechen Tomáš Netopil, ist „Jenůfa“ die zweite Opernproduktion. Der Partitur seines Landsmanns Leoš Janáček verleiht er mit den ausgezeichnet aufspielenden Essener Philharmonikern dramatische Fallhöhe und anrührende Momenten folkloristischer Schlichtheit.
„Jenůfa“ | R:Robert Carsen | 28.9. 19 Uhr | Aalto Musiktheater in Essen | 0201 812 22 00
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Hexen, Blut und Wahnsinn
„Macbeth“ am Aalto-Theater in Essen – Oper in NRW 08/23
Begnadeter Dirigent
Nachruf auf den früheren Aalto-Intendant Stefan Soltesz – Bühne 09/22
Krieg fressen Seele auf
Roland Schwab inszeniert „Otello“ in Essen – Oper in NRW 04/19
Geisterkönig in der Villa Hügel
Romantische Märchenoper „Hans Heiling“ in Essen – Oper in NRW 04/18
Troubadour der Apokalypse
Caurier und Leiser inszenieren Verdi in Essen – Oper in NRW 02/18
Bauernschwank in der Mehrzweckhalle
Das Regieduo Skutr inszeniert „Die verkaufte Braut“ in Essen – Oper in NRW 01/18
Tanz der bösen Horror-Clowns
Frank Hilbrich inszeniert „Rigoletto“ in Essen – Oper in NRW 09/17
Erlöser aus dem Jugendzimmer
Giacomo Meyerbeers „Le Prophète“ in Essen – Oper in NRW 05/17
Große Oper auf kleinem Raum
Tatjana Gürbaca inszeniert „Lohengrin“ in Essen – Oper in NRW 01/17
Figaro, der Strippenzieher
Rossinis „Il barbiere di Siviglia“ in Essen – Oper in NRW 07/16
Genießt und lacht!
„Die Liebe zu den drei Orangen“ in Essen – Oper in NRW 01/16
Flüchtlingsdrama auf Distanz
„The Greek Passion“ in Essen – Oper in NRW 11/15
Unerwartet Kaiserin
„Der Kreidekreis“ in Düsseldorf – Oper in NRW 11/24
Besiegt Vernunft die Leidenschaft?
„Orlando“ an der Oper Köln – Oper in NRW 11/24
Horror und Burleske
Die Spielzeit 24/25 am Gelsenkirchener MiR – Oper in NRW 07/24
Opern-Vielfalt am Rhein
„Nabucco“ eröffnet in Düsseldorf die Spielzeit 2024/25 – Oper in NRW 06/24
„Kritische Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit“
Kapellmeister Hermes Helfricht über Werner Egks „Columbus“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 06/24
Welt ohne Liebe
„Lady Macbeth von Mzensk“ am Theater Hagen – Oper in NRW 05/24
Die Gefahren der Liebe
„Die Krönung der Poppea“ an der Oper Köln – Oper in NRW 05/24
Absurde Südfrucht-Fabel
„Die Liebe zu den drei Orangen“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 04/24
Grund des Vergessens: Rassismus
Oper von Joseph Bologne am Aalto-Theater Essen – Oper in NRW 03/24
Täuschung und Wirklichkeit
Ein märchenhafter Opern-Doppelabend in Gelsenkirchen – Oper in NRW 02/24
Verpasstes Glück
„Eugen Onegin“ in Bonn und Düsseldorf – Oper in NRW 02/24
Unterschätzte Komponistin?
„Der schwarze Berg“ an der Oper Dortmund – Oper in NRW 01/24
Geschlossene Gesellschaft
„Flight“ an der Oper Bonn – Oper in NRW 01/24