Bochum, 7. September.: Anarchie ist machbar, Herr Nachbar. Sagt man so. Aber stimmt das auch? Marcel Seehuber und Moritz Springer haben sich für „Projekt A“ in unserer europäischen Nachbarschaft umgeschaut, die Dokumentation war am Mittwoch den 7.9. im endstation.kino in Langendreer zu sehen. Zu Gast an diesem Abend: Hanna Poddig, Anarchistin und eine der schillerndsten ProtagonistInnen des Films. Seit fast zehn Jahren ist sie Vollzeit-Aktivistin, lebt nomadisch und für einen Traum, der niemals endet. Warum Anarchismus keine Utopie bietet und Öko-Holzzahnbürsten Mist sind, weden wir später erfahren.
Von Bakunin bis Enric Duran
Doch gehen wir zunächst ein paar Schritte zurück. Oder besser: An den Tag, als Karl Marx den Vordenker des Anarchismus, Michail Bakunin, aus der Internationalen Arbeiterbewegung ausschloss. Es ist so etwas wie die Geburtsstunde der anarchistischen Bewegung. Denn Anarchie ist, wenn kein Mensch über den anderen herrscht. Kein König, keine gewählten Mandatsträger – und auch nicht das Proletariat. Deshalb ist der Anarchismus auch viel radikaler, als es Marx je sein konnte: Die kommunistische Erzählung verspricht die Umkehrung der Machtverhältnisse. Der Anarchismus deren Abschaffung.
Das ist natürlich bloß politische Traumtänzerei die inspiriert, aber nicht mehr. Oder? Mitnichten: „Projekt A“ zeigt uns das Spanien des beginnenden 20. Jahrhunderts, als der Anarchismus einen kurzen Frühling erleben durfte. Manche Triebe trotzen bis heute der kalten, neoliberalen Witterung und blühen wieder zaghaft auf: Zum Beispiel in Form der Confederación General del Trabajo (CGT) in Barcelona, der mit 60.000 Mitgliedern weltweit größten anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft. Oder der Cooperativa Integral Catalana, deren Mitglieder sich durch alternative Währungen und Tauschhandel Freiraum erobern. Oder in Gestalt des Aktivisten Enric Duran, der sich von 39 Banken eine halbe Millionen Euro lieh, sie nie zurückzahlte und in den Aufbau anarchistischer Projekte investierte.
Aktionismus oder Kuschelkurs
Und dann ist da noch Hanna Poddig: Der Film begleitet sie von ihrer Haftentlassung (fünfeinhalb Wochen wegen nicht-gezahlter Geldstrafe für eine Blockade-Aktion) zur nächsten Aktion: Angekettet an Bahnschienen stört sie den Transport von Atom-Müll. Poddig steht am äußeren Ende des anarchistischen Kontinuums: Sie will stören, Sand ins Getriebe streuen. Auf der anderen Seite des Kontinuums verwachsen Projekte mit etablierten Strukturen: Man nutzt die vorhandenen Rechtsmittel des Staates, den man eigentlich überwinden will, wählt einen Vorstand, so wie es Kaninchen-Zuchtvereine tun würden und oft bleibt am Ende nicht mehr übrig, als ein irgendwie alternatives, irgendwie solidarisches Projekt. Zum Beispiel beim Kartoffel-Kombinat, dem Landwirtschaftsprojekt aus München und etwas lahmen Abschluss des Films.
Besteht beim Kuschelkurs nicht die Gefahr, dass anarchistische Ideale verwässert werden? „Die Gefahr ist ja, dass gute Ansätze vom System vereinnahmt werden“, sagt Poddig. Sie erinnert an Bio-Läden, deren Besitzer auch dem linken Milieu entstammen, heute aber dreimal in Plastik eingewickelte Tropenfrüchte feilbieten. Man müsse dem System „unversöhnlich“ gegenüberstehen: Debatten führen, Herrschaftskritik schärfen, keinen Fußbreit jeglichem Machtanspruch. Auch nicht gegenüber Polizei und Gefängnissen.
Klingt irgendwie irre, oder? Aber kriminologische Studien offenbaren, dass wer zu Haftstrafen veruteilt wird, später mit höherer Wahscheinlichkeit rückfällig wird. Aber auch, dass aus dem Knast entflohene Straftäter keineswegs in Raserei über die Gesellschaft herfallen. Und ein Großteil der Gefängnis-Insassen sitzt wegen minder schwerer Delikte ein: Allein in NRW waren es vor einigen Jahren noch rund 5.000 wegen Schwarzfahren. Irre, oder?
Keine Utopie, niemals
Auch wenn es sich einige Besucher wünschten – eine Sache konnte Poddig ihnen nicht bieten: Eine konkrete Utopie, ein Strukturschema der perfekten Welt. Ihr Verständnis von Anarchismus ist Aktion, niemals System. Denn eine Utopie zu formulieren bedeute auch, sie anderen aufzuzwingen. Gegenüber allzu kleinen Schritten bleibt sie ebenfalls skeptisch, wie fair gehandelten Öko-Zahnbürsten aus Holz. Natürlich, Holz ist besser als Plastik; Fair-Trade besser als Ausbeutung. Und gutes Gewissen besser als Falsches im Falschen? „Das Problem ist: Es befriedet“, findet Poddig. „Und das tut die Plastikzahnbürste nicht.“
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