„Ich bin hier, um ein neues Leben anzufangen“, sagt Biran. Zur Schule will er gehen, einen Beruf erlernen – trotz aller Ungewissheit, wie lange er in Deutschland bleiben kann. Die Erinnerung will der Jugendliche am liebsten auslöschen. Genauso wie die anderen Flüchtlinge, die in einer Aachener Jugendunterkunft leben und im Film „Ferne Söhne“ porträtiert werden.
Sie erzählen von der todesgefährlichen Flucht, den zurückgelassenen Familien, von Terror und Krieg. Regisseur Andres Rump lässt die Protagonisten all das nur aus dem Off erzählen und fängt ihren Alltag in starren Schwarz-Weiß-Bildern ein. Trotz der Schilderung der schrecklichen Erlebnisse vermeidet er damit jeglichen Voyeurismus und rückt die Menschen mit ihren Ängsten und Traumata, aber auch mit ihren Wünschen und Hoffnungen in den Vordergrund.
Dafür erhielt Rump zurecht nicht nur eine Auszeichnung beim Dok Leipzig, sondern auch den mit 1.500 Euro dotieren blicke-Filmpreis. Insgesamt 39 Filme konkurrierten in diesem Jahr im Wettbewerb der 24. Ausgabe des blicke-Festivals miteinander, die Gewinner wurden im Rahmen der offiziellen Presiverleihung am 26.11. im endstation.Kino in Bochum bekannt gegeben.
Der von trailer gestiftete Querdenker-Preis ging an Juliane Henrich für ihren Filmessay „Aus westlichen Richtungen". Fast kindlich fragt die Regisseurin darin, was den „Westen", die (alte) Bundesrepublik ausmachte, reflektiert über die Architektur und erinnert sich an die eigene Kindheit.
Zu sehen gibt es vor allem graue Gebäude: „Am Anfang stand das Interesse für Architektur und Bilder der Stadt, in denen man verschiedene Schichtungen und Konzepte sieht", so die Regisseurin, die bei ihrer Spurensuche nach dem Gesellschaftsmodell der jungen Bundesrepublik auch Texte von Adenauer oder Ludwig Erhard aufgreift: „Die Ideologie des Einfamilienhauses hat mich interessiert, wie sie in den 50er Jahren propagiert wird und immer noch zu Zersiedlung führt. Auf der anderen Seite fand ich die Großsiedlungen der 60er und 70er Jahre faszinierend und die ganz anderen politischen Konzepte, die ursprünglich dahinter standen".
Dass ihre Eltern damals in Radikalopposition zur Sozialen Markwirtschaft standen und in K-Gruppen engagiert waren, prägt den Blick auf den „Westen" genauso: „Nach und nach kam auch eine persönliche Geschichte dazu", so die Regisseurin über die Entstehung des Films, die auch mit einer leisen Kritik an die Elterngeneration verbunden sei und ihrer im Sande verlaufenen Ziele. Eine leise wie subtile Systemkritik des Beton gewordenen Mythos BRD.
Brennpunkt Kaugummiautomat
Tristesse, soweit man schaut, gibt es zunächst auch in „Erfrischend einzigartig“ zu sehen. Regisseur Johannes Klais fängt in seinem mit dem Dokumentarfilmpreis Ruhr ausgezeichneten Beitrag das aussterbende Leben rund um die letzten Kaugummiautomaten des Ruhrgebiets ein. Wie Relikte stehen sie an den verlassenen Straßen und erinnern an alte Zeiten, in denen die Menschen schwelgen, die Klais in seinem Dokumentarfilm zu Wort kommen lässt.
Der von der Gleichstellungsstelle der Stadt Bochum gestiftete action:gender-Preis ging an „Die Küche meiner Mutter“. Regisseur Dominik Zurowski besucht mit der Kamera seine Großmutter in der polnischen Provinz. Der Schauplatz: Die Küche, in der die 97-Jährige ihre meiste Zeit verbringt und zugleich ein Ort der Erinnerung oder des Austauschs über tagespolitische Ereignisse wie die Krim-Krise.
Schäbige Kreuzungen, Ruinen der frühen BRD oder die ungewisse Zukunft von jugendlichen Flüchtlingen. Das diesjährige blicke-Filmfestival lässt die großen Themen in kleinen Geschichten entdecken. Die Erkenntnis: Viele graue Wände, aber noch mehr Hoffnung auf der Leinwand.
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