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Filmstill zu „Green Island“
Foto: Presse

Vorurteilsfrei in die Augen

22. November 2017

25. blicke-Filmfestival vom 19.-20.11. im endstation-Kino – Foyer 11/17

Was hat der Alterungsprozess von Punks im Pott mit der Turbo-Urbanisierung Chinas zu tun? Eine ganze Menge. Das zeigte auch die Jubiläumsausgabe des blicke-Festivals. Seit 25 Jahren steht es für familiäre und unprätentiöse Filmerlebnisse und weist mit seinem Programm doch weit über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus. Passend dazu wurde das Jubiläum ohne große Gala oder sonstigen Killefit gefeiert. Das Spektakuläre fand in den mehr als 40 Filmen, die in neun Programmblöcken, Werkstattgesprächen und auf den Monitoren im Foyer zu sehen waren, statt. 

Die JurorInnen Hatice Ayten, Luise Brinkmann und Christian Schön splitteten angesichts dieser Auswahl die drei Hauptpreise, so dass zwei erste Preise mit jeweils 1.500 Euro und zwei zweite, mit 750 Euro dotierte Preise vergeben wurden. Einen der beiden ersten Preise erhielt Yu-Shen Sus „Green Island“. Die Dokumentation zeigt den Bauboom in China exemplarisch an der Stadt Qingdao: Wohnblocks und Straßenzüge werden aus dem Boden gestampft, kleine Dörfer wandeln sich binnen kurzer Zeit zu Megacitys. Pulsierendes Großstadtleben sucht der Betrachter in den sorgfältig komponierten Tableaus aber vergeblich. Die Baustellen wirken verlassen, die Kamera schweift über noch leerstehende Rohbauten und blickt auf eine Verstädterung, aus der das Menschliche verschwunden ist.

Filmstill zu „Einwurf 20 Pfennig“, Foto: Presse

Mit einem weiteren, ersten Preis wurde „Einwurf 20 Pfennig“ ausgezeichnet. Ein melancholischer Abgesang auf Kinderfahrautomaten in Form von Zirkuspferden oder Helicoptern, die neben Kiosken und vor Einkaufszentren in Vergessenheit geraten. Die Regisseure Johannes Klais und Florian Pawliczek hatten mit ihrer Doku über die letzten Kaugummiautomaten schon 2016 einen Preis beim blicke-Festival gewonnen.

Auch die beiden zweiten Preise gingen an Filme, deren Kontrast kaum größer sein könnte. In Levan Tsintsadzes „Der Mann mit dem Fahrrad“ entsagt ein Philosoph jeder sozialer Interaktion. Er will sich ungestört dem Denken widmen, sein innerer Monolog fungiert als Offstimme. Erst nach einer flüchtigen Begegnung bei einer Radtour klopft sein Unterbewusstsein mit einer Traumbotschaft an die Hirnrinde. Schräg, mit viel trockenem Humor und in Schwarzweiß zeigt der Film, dass kein Mensch eine Insel ist.

Ganz ohne Dialog kommt hingegen „Kursmeldungen“ aus. Rainer Komers Doku montiert Impressionen aus Schleswig-Holstein, Momentaufnahmen von Fabriken, Bauernhöfen, Schiffen und Natur wechseln sich ab. Eine Kuh wird gemolken, ein Windrad in schwindelerregender Höhe gewartet, eine Achterbahn kreischt vorbei. Die Fragmente kartografieren in der Phantasie nach und nach eine Vorstellung des deutschen Nordens, in der man sich allzu gerne treiben lässt.

Diese Option ließ einem der mit dem trailer-Querdenkerpreis ausgezeichnete Film von Marian Mayland nicht. Sein filmischer Essay „Eine Kneipe auf Malle“ (wer da an Ex-NPDler Holger Apfel denkt, liegt richtig) reflektiert Rechtsextremismus in Deutschland. Der Off-Kommentar des Erzählers ist visuell durch die körnigen Szene einer Essener NPD-Demo unterlegt. Gebannt auf seit Jahrzehnten abgelaufenem Filmmaterial, so gestrig wie die menschenverachtende Ideologie, die die Demonstranten treibt. Wiederholt sich Geschichte? Brauchen Menschen Kategorien, um die Welt zu begreifen? Sind wir daher anfällig für Ideologien und ist ein filmischer Essay der richtige Ansatz der Kritik? Mayland liefert Fragen, keine Antworten.

Trotz dieser inhaltlichen Vielfalt war der Themenkomplex Gender diesmal nur gering vertreten. Neben den genderfluiden Gestalten, die Conrad Veits und Charlotte Maria Kätzel in „Blastogenese II“ im Stil eines 1950er-Jahre Creature Features inszenieren und Gina Wenzels „Y“, eine eindringlich gespielte, lesbische Begegnung in fast schon zu glatter Kinoästhetik, ließ sich die Jury am Ende von der Dokumentation „Nick“ überzeugen.

Die Regisseure Nick Kempf und Julian Pawelczik lernten sich bei einem Projekt im Mülheimer „together“ – einem Café für junge Lesben, Schwule, Bisexuelle und / oder Transpersonen – kennen. Nick ist als Mädchen geboren, hatte damals aber bereits begonnen, seine Transformation zum Mann filmisch zu dokumentieren und sich so die eigene Geschichte anzueignen. Was es bedeutet, sich fremd im eigenen Körper und in einer Gesellschaft zu fühlen, der es an Begriffen und Repräsentation zum Thema mangelt, veranschaulicht der Film ebenso wie Nicks Weg zu einer neuen Genderidentität. „Ich wünsche mir, dass mein Film anderen Transpersonen Mut macht“, sagte Nick, der seinen Film selbst in Bochum vorstellte. Dafür vergab die Jury den action:gender-Preis und rief alle FilmemacherInnen dazu auf, sich künftig mehr mit Gender-Themen auseinanderzusetzen.

Filmstill zu „Im Dschungel der Flüchtlinge“, Foto: Presse

Bewusst für einen unbequemen Film entschied sich auch die Mehrheit der ZuschauerInnen. Der Publikumspreis ging an „Im Dschungel der Flüchtlinge“ von Sophia Gamboa, Andreas von Hören und Maman Salissou Oumarou. Die Produktion vom Medienprojekt Wuppertal entstand im illegalen Flüchtlingslager von Calais vor dessen Abriss und gibt Geflüchteten eine Stimme. Die Gründe für ihre Flucht sind so vielfältig wie die Hoffnungen, die Menschen dazu treiben, inmitten von Müll, ohne sanitäre Anlagen, Trinkwasser oder Elektrizität auszuharren. Schicksale, die uns in der behaglichen Wärme bequemer Kinosessel ganz weit weg scheinen. Der Film erinnerut uns außerdem daran, dass noch immer Millionen von Menschen auf der Flucht sind  Gesellschaft und Politik noch keine Lösung gefunden haben, nachhaltig zu helfen.

Außerhalb des Wettbewerbs beeindruckte besonders das Werkstattgespräch zu Ulrike Pfeiffers Dokumentation „Werner Nekes – Das Leben zwischen den Bildern“. Der Experimentalfilmer und Sammler Werner Nekes begriff als erster die Film- auch als Mediengeschichte. Er sammelte insgesamt 40.000 Objekte aus der Vorgeschichte des Kinos in seinem Haus in Mülheim a.d. Ruhr, von Lochkamera-Konstruktionen über Daumenkinos bis hin zu Wundertrommeln und Praxinoskopen der Neuzeit. Außerdem drehte er zahlreiche experimentelle Kurzfilme mit Hilfe von Apparaturen, die er selbst erfand. Nekes verstarb Anfang 2017. Nun wird ein Ort gesucht, wo diese Objekte Interessierten dauerhaft zugänglich gemacht werden können.

Im Film entfaltet sich durch Gespräche mit Weggefährten wie Alexander Kluge, Bazon Brock oder Helge Schneider das Porträt eines Menschen, der Avantgarde war und gleichzeitig versuchte, die Ursprünge des Filmes für die Nachwelt zu archivieren. Regisseurin Ulrike Pfeiffer erklärte in der anschließenden Diskussion, bewusst keine klassische Fernsehdoku gedreht zu haben: „Das ist ein Film für das Kino. Da wollen die Zuschauer etwas erleben“. Außerdem schwärmte sie davon, dass Nekes sich Zeit seines Lebens kindliche Neugier und die Fähigkeit, Bilder ohne Vorurteile direkt in die Augen fließen zu lassen, bewahrt habe. Eine Tugend, auf die auch das blicke-Festival stolz sein kann.

Maxi Braun

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