Dokumentarfilme haben sich in den letzten zehn Jahren einen neuen Stellenwert im Kino erkämpft. Dass es beim Publikum einen Überdruss an Fiktion gibt, darf bei den Erfolgen von Superhelden- und Fantasyspektakeln angezweifelt werden. Andererseits liest man immer häufiger das berühmte „nach einer wahren Begebenheit“ im Vorspann. Der Hinweis scheint mitunter als Qualitätskriterium herhalten zu müssen, dabei ist dieses „wahr“ doch meist gar nicht mit „ist genau so passiert“ zu fassen. Dass wiederum behaupten in der Regel Dokumentarfilme. Es ist aber ein altes Vorurteil, dass der Dokumentarfilm per se näher an der Wirklichkeit und an der Wahrheit ist als der Spielfilm. Dass Spielfilme aber besser unterhalten als Dokumentarfilme, ist ebenso unbewiesen. Auch die 16. Ausgabe des Dokumentarfilmfestivals Stranger than Fiction tritt an, um das Gegenteil zu beweisen. Ein Blick auf das Programm wirft die Frage auf: Warum überhaupt eine gute Geschichte erfinden? Denn nicht nur die Redewendung behauptet, dass die besten Geschichten das Leben schreibt, auch die auf dem Festival gezeigten Filme legen das nahe. Es ist trotzdem eine Kunst, die Wirklichkeit zu einem Film zu verdichten und eventuell in sie einzugreifen, ihr eine Richtung zu geben. Und dann muss man sie auch erst mal finden, jene Geschichten, Menschen und Orte.
Das Dokumentarfilmfest „Stranger than Fiction“ zeigt Filme, die gute Geschichten gefunden haben – mehr denn je. Das Festival wurde zum 15. Jubiläum im letzten Jahr ausgebaut. Wie zuvor wird dieses Mal das komplette Programm des Festivals in der Kölner Filmpalette gezeigt, und eine Auswahl aus allen Reihen ist im Bochumer Endstation Kino und im Cinema in Münster zu sehen. Daneben ist die im letzten Jahr lancierte Reihe „Dokumentarfilme aus NRW“ auch komplett in den Filmkunstkinos in Düsseldorf und im sweetSixteen in Dortmund zu sehen. Ebenfalls neu seit 2013 sind die Werkstattgespräche mit den Gerd-Ruge-Stipendiaten. Das Gerd Ruge Stipendium wird seit 2002 von dem bekannten Fernsehjournalisten und der Film- und Medienstiftung NRW verliehen. Jährlich werden 100.000 Euro für Stoffentwicklung und Recherche vergeben. Auch in diesem Jahr werden zwei unterstützte Projekte der letzten Jahre vorgestellt. Im Zentrum des Festivals steht nach wie vor das Programm mit internationalen Dokumentarfilmen, das die ganze Palette des aktuellen Dokumentarfilmschaffens zeigt. „Man Made Land“ zeigt beinahe stumm Bilder vom chinesischen Größenwahn: eine riesige Reisbrett-Stadt, fast unbewohnt. „Tour du Faso“ begleitet ein afrikanisches Radrennen der Superlative, eine Doku über das Attentat des Norwegers Anders Breivik („Wrong Time wrong Place“) oder eine Reise zu vergessener Blues-Musik („This ain't no Mouse Music“) sind neben vielen weiteren Filmen auch zu sehen.
Neben all den Filmen, die versuchen, die Wirklichkeit möglichst objektiv zu spiegeln, gibt es auch jene, die offensiv in sie eingreifen wollen. „Der große Demokrator“ von Rami Hamze ist ein solcher Film. Hamze ist Kölner und wird im Stadtteil Kalk aktiv. Er hat 10.000 Spenden gesammelt und will mit seinem Projekt „Kalk für alle“ nun die Kalker Bürger dazu bewegen, selber zu bestimmen, was mit diesem Geld in ihrem Stadtteil passiert. Schnell wird Hamzes Euphorie gebremst, weil er nur wenige Bürger erreicht und letztendlich selber mit den demokratischen Prozessen überfordert ist. „Der große Demokrator“ ist zum einen sehr lustig, zeigt aber auch eine große Ernsthaftigkeit. Ein bewegender Film, und ein Film, der etwas bewegt. Beides sind Qualitäten, die in vielen der bei Stranger than Fiction gezeigten Filme stecken.
Dokumentarfilmfest Stranger than Fiction | 25.1. - 16.2 in Köln, Bochum, Münster, Düsseldorf und Dortmund | www.strangerthanfiction-nrw.de
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