Drei Orte führt Su Yu Hsin zusammen: die 1987 stillgelegte Henrichshütte in Hattingen, den Tian’anmen-Platz, den Platz des Himmlischen Friedens, wo im Sommer 1989 die chinesische Regierung Protestierende niedermetzeln ließ und das Weltall. Diese Konstellation ergab sich, als Yu Hsin vor Ort für ihr nächstes Projekt recherchierte. Dabei stieß die 1989 geborene Filmemacherin auf den Fall einer chinesischen Dolmetscherin namens Lin, die sich nach der Demontage des Hochofens Nr. 2 im Jahr 1990 entschied, in Deutschland zu bleiben.
Weltraumenergie
Im Ruhrgebiet begann Lin, an einem Science-Fiction-Roman zu schreiben, den sie zwar nie vollendete, der jedoch die assoziative Klammer von Yu Hsins Filmessay bildet. Denn das Romanfragment thematisiert nicht nur die Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens nach 1989, wie Yu Hsin erläutert: „Im Gegensatz zu Lin reist ihre Figur durch die Erdatmosphäre in den Weltraum, um nach alternativen Energiequellen als Ersatz für Kohle zu suchen.“
Von dieser kühnen postfossilen Vision erzählt auch „Hochofen II“, obwohl der Film zunächst das Ende der Henrichshütte zeigt. Markierungen verdeutlichen den Arbeiter:innen, wo welche Teile hingehören: gelb steht für den Verbleib in Deutschland, rot für den Transport nach China. Diese Szenen erinnern an den Dokumentarfilm „Losers und Winner“, in dem Ulrike Franke und Michael Loeken die Demontage einer Dortmunder Kokerei für den Verkauf nach China begleiteten.
Menschen verschwinden
Yu Hsin eröffnete keinen nostalgischen Blick auf die Industrie, sondern handelt vielmehr vom „radikalen Wandel“, den der Umweltschützer James Lovelock zur Definition des Anthropozäns herangezogen habe: „Aus meiner Lektüre der letzten Jahre über die industrielle Revolution geht hervor, dass wir Menschen die Kraft des Sonnenlichts durch den Kohleabbau nutzen.“ Kohle sei daher eine Form des versteinerten Sonnenlichts, argumentiert die in Berlin und Taiwan lebende Künstlerin: „Die Industrie wandelte das in der Kohle eingeschlossene Sonnenlicht direkt in Arbeit um.“ Damit folgt sie dem Weg der Hochofen-Kohle zurück: aus dem Stahlwerk heraus als Meteorit ins Weltall, wie auch die Jury in ihrer Begründung hervorhob: gleich dem Verschwinden der Menschen, die hier ihre Arbeitskraft verkauften.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Von Kernkraftwerken bis Kleinstadtpolitik
32. Blicke Filmfestival in Bochum
Grenzen und Gewalt
31. Filmfestival blicke in Bochum – Festival 12/23
Humanoide Blumen
„Speaking Flowers“ beim Filmfestival blicke – Festival 12/23
„Die Sichtung ist das Highlight!“
Katharina Schröder zum 30. Jubiläum des blicke Filmfestivals – Festival 01/23
Mehr als Ruhrgebietsromantik
Filmfestival blicke: Jubiläumsauftakt im Bahnhof Langendreer – Festival 12/22
An die Arbeit
Filmfestival blicke: Sonntagsmatinee in Bochum – Festival 12/22
Soziale Beziehungen im Brennpunkt
Filmfestival blicke in Bochum – Festival 11/22
Wüstensand und Wolkenkratzer
Preisverleihung des blicke-Festivals im Bahnhof Langendreer – Festival 11/21
Science-Fiction trifft Politik
Filmfestival „blicke“ im endstation.kino in Bochum – Festival 11/21
„Man kann weniger davonlaufen“
Die Leitung des blicke filmfestivals über die diesjährige Filmauswahl – Festival 12/20
Alles, was denkbar ist
Das blicke-Filmfestival geht in die 28. Ausgabe – Festival 11/20
Perspektiven jenseits des Patriarchats
Das blicke-Festival im endstation-Kino, Bochum – Festival 11/19
Die ganze Palette Kino
9. European Arthouse Cinema Day – Festival 11/24
Wenn Kino Schule macht
Die Reihe Filmgeschichte(n) spürt Schulgeschichten auf – Festival 05/24
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
Filmgeschichten, die das Leben schreibt
Neue Dokumentarfilme aus einer verrückten Welt – Festival 01/24
Kino galore
European Arthouse Cinema Day 2023 – Festival 11/23
Komplizinnenschaft
Das IFFF bietet einen Blick auf feministische Solidarität – Festival 04/23
„Man muss sich über alte Zöpfe Gedanken machen“
Clemens Richert zur 44. Auflage der Duisburger Akzente – Festival 03/23
Herbstzeit – Kinozeit
European Arthouse Cinema Day – Festival 11/22