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Nach der Preisverleihung: Jury und Gewinner:innen lächeln fürs Gruppenfoto,
Foto: Anna Kox

Ungeschönt aufs Leben blicken

09. Januar 2025

32. blicke-Filmfestival in Bochums Endstation Kino – Film 01/25

„Das find‘ ich irgendwie toll“, kommentiert Constanze Wolpers ihren Publikumspreis. Dass ausgerechnet die Besucher:innen des 32. blicke-Filmfestivals ihren Film „Eine einzelne Tat“ auszeichnen, ist für sie eine besondere Überraschung, denn gute Laune macht ihre Auseinandersetzung mit der Tötung des 15-jährigen Arkan Hussein Khalaf wahrlich nicht. Unermüdlich hat Wolpers 1.700 Seiten Ermittlungsakten der Celler Polizei durchkämmt. Sie wollte verstehen, wieso Rassismus als Motiv ausgeschlossen wurde, wie aus einem êzîdischen Jungen aus dem Irak ein syrischer Kurde ‚werden‘ konnte, warum die rassistische Sprache des Täters nach und nach aus den Akten verschwand. Wolpers, die selbst in Celle aufgewachsen ist, kratzt radikal am Bild der niedersächsischen Kleinstadtidylle („Fachwerk, Pferde, Heide“).

Wessen Wahrnehmung?

Die Frage, wie bei so einer Geschichte die angemessene Erzählhaltung für eine weiße Filmemacherin aussehen kann, fand sie „schrecklich herausfordernd“. Eine schwierige Gratwanderung: „Ich wollte ja gerade zeigen, dass die Wahrnehmung der Behörden nicht objektiv ist, sondern geleitet von der eigenen Lebenserfahrung“.  Sie sagt, es wäre ihr scheinheilig vorgekommen, dem ihren Film als gleichsam neutralen Tatsachenbericht, ohne eigene Perspektive, entgegenzustellen. Gleichzeitig habe sie auch nicht den Anschein vermitteln, dass sie sich Arkans Geschichte aneignen würde.

Ein kritischer Blick auf Archive, Dokumentiertes noch einmal prüfen und neu erzählen, das ist in diesem Jahr das Projekt von vielen Teilnehmer:innen des Wettbewerbs. In Artiom Zavandovskys „Confessions of Pia Antonia“ lernt das Publikum eine Künstlerin kennen, der der Durchbruch mit ihren Gemälden zu Lebzeiten nicht gelingen wollte. Pia Antonia und ihre Bilder eckten an – in der „Choreographie spießbürgerlicher Architektur“, wie Zavandovsky den Kölner Vorort, in dem sie lebte, beschreibt, aber eben auch in Galerien, in denen man ohne das richtige kulturelle Kapital nicht ernst genommen wird. Der Film, der zu großen Teilen aus langen Einstellungen von Pia Antonias Bildern besteht (immer bunt und provokant, häufig pornografisch), wird zu der Solo-Ausstellung, auf die sie ihr Leben lang gewartet hat. Wenige Tage nach der Premiere ist sie verstorben. Zavandovsky erhält für sein Porträt, das trotz reichlichen Humors seine Protagonistin nie zur Witzfigur macht, den gender&queer-Preis, und widmet ihn in seiner Dankesrede allen Künstler:innen, die bisher übersehen wurden.

Familiengeschichte

Neben Polizeiakten und Kunstsammlungen taucht vor allem ein Archiv immer wieder auf: Das Familienalbum. Maximilian Karakatsanis, Gewinner des Fundstücke-Preises nutzt neben der Reise in den Heimatort seines Großvaters alte Fotos, um in „Fasolákia“ seine Migrationsgeschichte nachzuerzählen und zu verstehen, wie „in der Diaspora ein Ort aufrecht erhalten wird, den es so gar nicht mehr gibt“. Beim Dreh der Bilder aus Griechenland, bei denen man gerade bei deutschem Novemberwetter noch nie in Griechenland gewesen sein muss, um Sehnsucht nach dem Mittelmeer zu bekommen, unterstützte ihn seine jüngere Schwester. Die Zusammenarbeit habe noch einmal deutlich gemacht, wie unterschiedlich das Verhältnis zur Familiengeschichte zwischen den Geschwistern sei, erzählt er. „Aber ich glaube, meine Schwester hat mich durch den Film auch besser verstanden“.

Zum Einsatz kommen Familienfotos auch in Suse Itzels „Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht“, den Gewinner des Ausblicke-Preises. Itzel untermalt ihre Berichte vom sexuellen Missbrauch, den ihr Vater ihr im Kindes- und Jugendalter antat, indem sie die Räume ihres Elternhauses auf gespenstisch ähnliche Studiokulissen oder ihr Zimmer in der Psychiatrie projiziert und durch zerschnittene Kinderfotos blättert, in denen sie und ihren Eltern nur noch als Leerstellen existieren. Eine umgedrehte Spukgeschichte, bei der das Publikum bereits am Anfang erfährt, welches Trauma die Heldin heimsucht.

Über Missbrauch reden

Itzel setzt sich mit „Ich hätte lieber einen anderen Film gemacht“ über das „in den Körper eingeschriebenen Schweigegebot“ hinweg, das viele Opfer sexueller Gewalt durch die Tabuisierung des Themas erfahren. Selbst wenn der Kopf versteht, dass sie weder Schuld trifft, noch Anlass hat, sich zu schämen: Über Missbrauchserfahrungen nicht länger zu schweigen, kostet Überwindung und kann zu unbeholfenen Reaktionen im Publikum führen. Manche gingen auf Distanz, vielleicht aus Unsicherheit über den richtigen Umgang, so Itzel. Sie habe aber auch schon erlebt, dass Menschen den Film als Einladung verstehen, nach der Aufführung ihren emotionalen Ballast auf Itzel abzuladen und sich von ihr trösten zu lassen. Itzels Film geht der politischen, gesellschaftlichen und persönlichen Bedeutung dieser weitverbreiteten Ratlosigkeit und Hilflosigkeit nach.

Es fühle sich befreiend an, nicht länger zu still zu sein und durch die künstlerische Auseinandersetzung auf das Thema aufmerksam zu machen, erklärt Itzel. Aber: „So einen Film zu machen, ersetzt keine Therapie. Mein nächstes Projekt bin ich selbst.“

Den Einblicke-Preis gewinnt in diesem Jahr eine alte Bekannte des Festivals, auf dem bisher jeder von Maria Maylands Filmen gezeigt wurde. Umso mehr freue sie sich über die Auszeichnung ihres neusten Werkes „Outside“, der Geschichte einer Künstlerin, die sich als Holocaust-Überlebende ausgibt, aus der Perspektive von Menschen, die sie zu kennen glaubten. „Ein formal strenges, detailreiches Erzählen über das Erzählen“, nennt es Fatima Çalışkan, Jurymitglied, in der Mayland noch beim letzten Festival selbst saß. Den Rollenwechsel genieße sie: „Das ist ein besonders familiäres Festival. Es ist interessant, das aus verschiedenen Perspektiven zu erleben“.

Das Unfassbare ertragen

Auch Festivalleiterin Alisa Berezovskaya bringt nach der Preisverleihung ihre Wertschätzung für die gute Atmosphäre zum Ausdruck. „Es läuft alles reibungslos, auch schon Monate im Voraus. Ich bin echt dankbar für das eingespielte Team“. Auf ihre Mitarbeiter:innen sei so viel Verlass, da könne sogar sie als Chefin zwischendrin abschalten und das Programm genießen.

Bei der gelösten Stimmung zwischen den Vorführungen ist dem Publikum kaum anzumerken, wie schwer ertragbar die Themen sind, mit denen es im Kinosaal konfrontiert wird. Kindesmissbrauch, rassistischer Mord, Kriegsverbrechen. Filmemacher:in Malin Kuht („Blue Lights Waves Goodbye“) beschreibt in einer Pause, warum das Festival trotzdem gut tue: weil es einen Raum für den Austausch über Schmerz, Leid und Gewalt schafft. „Ich bin froh, die Filme zu sehen, aber ich bin auch froh, sie nicht alleine zu sehen“, sagt Kuht. Sensible Themen dürfen nicht totgeschwiegen, nicht zum Tabu werden. Damit das Gespräch darüber keinen Schaden anzurichte, seien gemeinsame ästhetische Annäherungen eine sehr gute Wahl.

Die eigene Schuld?

Auch der Weitblick-Preis geht an einen Film, bei dem man ganz schön schlucken muss. Pavel Mozhar konfrontiert in „Ungewollte Verwandtschaft“ sein Publikum mit den Menschenrechtsverletzungen, die mit dem russischen Einfall in die Ukraine einhergehen. Überwachung, Demütigung, Folter, basierend auf den Berichten ziviler Opfer. Seine Bilder sind keine sensationsheischenden Gewaltorgien. Mozhar setzt auf Dioramen, Spielzeugpanzer und Darsteller:innen, die mechanisch die von der Erzählstimme beschriebenen Gräueltaten nachstellen.

Das Publikum wird damit keineswegs emotional geschont. Man kann gar nicht anders, als die Lücken in der Darstellung durch die Vorstellungskraft zu füllen. So werden die Zuschauer:innen gleichsam mitschuldig an der Inszenierung der Gewalt, bevor Mozhar seine eigene Beziehung zum russischen Militär bespricht – anhand einer Panzerschlacht, die er als Grundschüler in Belarus gemalt hat. Nach dem Abspann ist er nicht der Einzige, der sich fragt, wie viel Angriffskrieg in einem selbst steckt.

Anna Kox

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