Die Erwartungen waren hoch an den Star-Regisseur, der im vergangenen Jahr den „Echo Klassik“-Preis für seinen Lübecker „Wagner-Ring“ als beste Opern-DVD-Produktion einheimste. Anthony Pilavachi begann seine Karriere als Opernregisseur in den 80er und 90er Jahren in Bonn und Köln. Nun inszenierte er zum ersten Mal am Theater Hagen. Nach gut zehn Jahren brachte er dort wieder eine „Carmen“ auf die Bühne – und ließ das Publikum schon vorab wissen, er arbeite eigentlich nicht „für solch eine Gage wie momentan in Hagen“. Dass er dennoch kam, ist einem großen Sponsor zu verdanken.
Der große Knall-Effekt indes blieb bei der Premiere zunächst einmal aus. Pilavachis Einstieg in Bizets Vierakter ist denkbar konventionell und eher lahm. Allein die kurze Intro-Szene während der Ouvertüre hat ihren Reiz. Zu sehen ist „das Mädchen Carmen“, das bereits in Kinderjahren lernt, womit sich die erwachsene Frau einmal ihren Lebensunterhalt verdienen wird: Taschendiebstahl. Danach ist für lange Zeit Schluss mit zündenden Regie-Ideen. Pilavachi und Bühnenbildner Peer Palmowski entwerfen für den ersten Akt eine Kulisse, die von Enge und Gefängnisgittern dominiert wird. Auf der psychologischen Ebene mag das durchaus Sinn ergeben, auf das konkrete Bühnengeschehen aber wirkt es überaus lähmend.
Danach gibt es Lichtblicke: Die Kneipe von Lillas Pastia im zweiten Akt ist ein Strip-Lokal, in dem Kristine Funkhauser als Carmen ihre Reize sehr effektvoll in knielangen, hochhackigen Lackstiefeln ausspielt. Im Bemühen, eine Carmen jenseits der gewohnten Zigeuner- und Flamenco-Klischees zu zeigen, ist die Mezzosopranistin, die mit blondem Kurzhaarschnitt auftritt, ein absoluter Volltreffer – sowohl gesanglich als auch schauspielerisch. In ihrem Bestreben nach Unabhängigkeit und Freiheit bildet sie den Dreh- und Angelpunkt einer Inszenierung, die wenig konkrete Aktualisierungen und erst recht keine Neudeutungen zeigt.
In der Figurenzeichnung beweist die Regie nicht immer eine so glückliche Hand wie bei der Protagonistin. Bei Tenor Charles Reid als Don José übertreiben es Pilavachi und Kostümbildner Bernhard Hülfenhaus mit der Biederkeit. Was anfangs noch passt, wird bei der Verwandlung des braven Soldaten in einen hitzköpfigen eifersüchtigen Outlaw, der alle Nase lang das Springmesser zückt, reichlich unglaubwürdig.
Erst im vierten Akt passt wirklich alles perfekt: Pilavachi verlegt den Showdown der Tragödie in das Hotelzimmer des Toreros Escamillo (leidenschaftlich gesungen und gespielt von Frank Wong), in dem er die Nacht mit Carmen verbracht hat. Als der Held in die Arena zieht – welche in hörbarer Nähe liegt – und Carmen dort zurücklässt, taucht der völlig verzweifelte, sichtlich heruntergekommene José dort auf – und das tragische Schicksal nimmt seinen Lauf. In diesem intimen Kammerspiel beweist Regisseur Pilavachi die Qualität, die von ihm erwartet wurde. Schade, dass diese gut besetzte und hörenswerte (Leitung: Florian Ludwig) Produktion nicht früher Fahrt aufnimmt.
„Carmen“ I 13.9.19.30 Uhr I Theater Hagen I 02331 207 32 18
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