Es gibt in der kulturellen Evolution immer noch Nischen, die eigentlich keine sein müssten. Ursachen sind oft eingefahrene Sehgewohnheiten und der dazu gehörende Glaube, visuelle Ästhetik allein über bekannte und normierte Parameter zu definieren. Einen Weg, diesen Tatbestand zu dekonstruieren, ist beispielsweise das Medium des so genannten „mixed-abled Tanz“, der TänzerInnen mit unterschiedlichen Körperlichkeiten präsentiert. Ausgerechnet in einer Kunstsparte, die mit brachialer Präzision und millimetergenauem Körpergefühl wuchert, was hat ausgerechnet da ein Mensch mit Down-Syndrom zu suchen?
Bevor die Vorurteile wieder ihren Weg in eingefahrene Bahnen finden, machen wir uns auf den Weg nach Hagen, für acht Tage steht im Juni dasTheater dortganz im Zeichen eines deutschlandweit einmaligen Tanzfestivals. Die „Farben des Tanzes“ präsentieren genau diesen „mixed-abled Tanz“, der beispielsweise in England schon seit Jahrzehnten eine riesige Fangemeinde hat, der aber in Deutschland dieses Nischendasein fristen muss, ohne Grund, wie man bereits an der Kölner DIN A 13 tanzcompany sehen konnte, die schon mehrfach mit internationalen Koproduktionen im Düsseldorfer tanzhaus zu sehen war.
Seit Gründung des Ensembles durch die Choreografin Gerda König ist es international eines der wenigen Tanzensembles, deren Mitglieder sich aus Tänzern mit unterschiedlichen Körperlichkeiten zusammensetzen. Das Unerwartete eines anderen Körpers wird zur ästhetischen Erfahrung, deren Ausdruck neue Qualitätsmaßstäbe setzt und im krassen Kontrast zu den klassischen Vorstellungen steht. Sie eröffnen das Hagener Festival mit „Unperfectly Perfekt“.Initiator Ricardo Fernando hat für die „Farben des Tanzes“ weitere nationale (Miriam Michel und dorisdean) und internationale Gruppen eingeladen, die ihre Aufführungen im Hagener opus präsentieren. Da kommt aus England die Candoco Dance Company mit fähigkeitsgemischten Tänzern, die bereits 1991 gegründet wurde. Sie wollen die Wahrnehmung der Zuschauer herausfordern, sie sind witzig, aber auch ergreifend und arbeiten mit dembildenden Künstler Hetain Patel zusammen. „Let's Talk About Dis!“ ist also gleichzeitig Performance, Installation, Video, Fotografie und Skulptur, die Gruppe verwischt die Grenzen zwischen Theater, Galerie und Film.Einen ähnlichen Weg geht das Culture Device Dance Project, eine experimentelle Compagnie für professionelle Tänzer mit Down-Syndrom. Die britische TV-Schauspielerin und TänzerinSarah Gordy und der TänzerJohn Livingston arbeiten mit Improvisation und experimentellen elektronischen Klängen, wollen so unter der Leitung von Daniel Vais auch Grenzen in den Bereich einer neuen Choreografie verschieben.
Aus Brasilien kommt das Ballet de Cegos, die einzige professionelle Balletttruppe für Blinde in der Welt, die Highlights des klassischen Balletts auf Spitze zeigt. Die Schulebesteht bereits seit 1995 und wurde von der Tänzerin und Physiotherapeutin Fernanda Bianchini gegründet. Über 300 Kinder wurden dort bereits ausgebildet.
„Farben des Tanzes“ | 31.5.-7.6. | Theater Hagen | 02331 207 32 18
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