„Ich erwarte nicht, dass Sie den Film genießen werden. Er ist düster und traurig.“ Klare Worte richtet Schauspielerin Mina Hasanlou bei der Deutschlandpremiere von „Critical Zone“ im Odeon an das Publikum. Trotz des ebenso düsteren Wetters ist der Saal zu mehr als zwei Dritteln besetzt. „Ich freue mich, dass Sie trotzdem gekommen sind“, sagt sie. Die Stimmung im Iran sei extrem angespannt, es sei wichtig, das klarzumachen und nichts zu beschönigen. Viele der Menschen im Saal haben selbst iranische Wurzeln, wie sich beim Filmgespräch später noch zeigen wird.
Vor Aufkommen der Frau – Leben – Freiheit-Bewegung
Regisseur und Autor Ali Ahmadzadeh folgt in „Critical Zone“ mit nüchternen Bildern dem Drogendealer Amir (Amir Pousti) eine Nacht lang durch Teheran. Die Menschen, denen er begegnet, sind angespannt, haben müde Gesichter, lachen nicht. Einer von Amirs Kunden fängt neben ihm auf dem Beifahrersitz plötzlich an, herzzerreißend zu schluchzen, legt seinen Kopf in Amirs Schoß. In einer anderen Szene streckt eine von Amirs Kundinnen ihren Kopf aus dem fahrenden Auto, reißt sich den Hijab herunter und brüllt ein lautes „Fuck you!“ in die Nacht hinaus. Ein kleiner Ausbruch, der zeigt, wie sehr es in den Köpfen der Menschen brodelt.
Ahmadzadeh findet treffende Bilder, um das Gefühl der Ausweglosigkeit in der iranischen Bevölkerung darzustellen. In einer Szene befindet sich die Kamera auf dem Lenkrad und zeigt Amir, der sich immer wieder um sich selbst dreht, gefangen in der Fischaugenperspektive. Ein anderes Mal zeigt sie Amir und eine seiner Kundinnen (Mina Hasanlou) im Treppenhaus; anstatt den beiden durch die einzelnen Stockwerke zu folgen, bleibt die Kamera statisch, lässt sie scheinbar im Kreis laufen. Neben all der Ausweg- und Hoffnungslosigkeit gelingt es Ahmadzadeh jedoch zugleich, alle Figuren in ihrer Menschlichkeit zu zeigen, Zwischentöne einzufangen – und die tiefe Traurigkeit und Melancholie, die über allem schwebt. Wichtig ist auch: „Critical Zone“ entstand bereits, bevor sich 2022 die Frau – Leben – Freiheit-Bewegung als Reaktion auf den Tod von Jina Mahsa Amini formte. So vermittelt der Film einen Eindruck davon, in welchem Zustand sich das Land vor Beginn der Bewegung befand und wie es zu dieser kommen konnte.
Dreharbeiten ohne Genehmigung und Zensur
Beim anschließenden Gespräch mit Moderator Amin Farzanefar (Leiter des Filmfestivals Visions of Iran) betont Darstellerin Mina Hasanlou, dass es dem Film genau darum gehe: „Es ist ein Einblick in eine düstere Gesellschaft, in der Frauen ihre Bedürfnisse unterdrücken müssen und in jeder Familie mindestens ein Mitglied drogenabhängig ist.“ Der Film sei heimlich und ohne offizielle Genehmigung entstanden. Also auch: ohne Zensur. „Deshalb habe ich mich entschieden, mitzumachen“, sagt Hasanlou. „Ich wollte den Rahmen des bisherigen iranischen Kinos sprengen, den ich als sehr eng empfand.“ Nur so sei es möglich gewesen, die iranische Lebensrealität so ungeschönt darzustellen. Die heimliche Entstehung hat Folgen: Regisseur Ahmadzadeh ist bei dieser Deutschland-Premiere nicht dabei. „Die Situation ist sehr angespannt“, sagt Moderator Amin Farzanefar. Laut Hasanlou hätten bis auf Hauptdarsteller Pousti alle Mitwirkenden des Films den Iran mittlerweile verlassen.
Die Fragen aus dem Publikum – meist von Menschen mit iranischen Hintergrund – zeigen, dass „Critical Zone“ einen Nerv trifft. „Ich bin selbst Iran-Aktivist“, sagt einer der Zuschauer. „Welche Botschaft sollen wir für die Frau – Leben – Freiheit-Bewegung mitnehmen?“ Als Antwort verweist Hasanlou einmal mehr auf den ungeschönten, realistischen Blick des Films auf die iranische Gesellschaft. Eine andere Zuschauerin verweist darauf, dass Kunst nicht alles erklären muss.
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