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Foto: Paul Tschierske

Opferbereit gegen das System

03. Februar 2025

Dokumentarfilm „Algier – Hauptstadt der Revolutionäre“ im Essener KWI – Film 02/25

MPLA. MPAIAC. FRELIMO. PAIGC. GRP. PFLOAG. PCBR. FPLN. Buchstabenkürzel, die heute in Vergessenheit geraten sind. Es waren Befreiungsorganisationen in Angola, auf den Kanarischen Inseln, in Mosambik, Guinea-Bissau, Südvietnam, Oman, Brasilien oder Portugal. Sie alle waren in den 1960er- und 70er-Jahren in Algier angesiedelt, Algerien war ein Zentrum des Befreiungskampfs gegen die Kolonialherrschaft. Von ihnen handelt die Dokumentation „Algier – Hauptstadt der Revolutionäre“, die 1972 im NDR lief, direkt nach den Abendnachrichten. Gedreht wurde sie von den damals sehr umtriebigen Journalist:innen Marie-Claude Deffarge (1924–1984) und Gordian Troeller (1917–2003). Dem Werk der Französin und des Luxemburgers widmet das Museum Folkwang in Essen aktuell eine Retrospektive. Begleitend dazu zeigte das Kulturwissenschaftliche Institut (KWI) in Essen kürzlich den Dokumentarfilm.

Mehr als dreißig Leute hatten sich eingefunden, um sich den Film im KWI anzuschauen, die Einordnung des Historikers und KWI-Mitarbeiters Danilo Scholz zu hören und anschließend mit ihm über den Film zu diskutieren. Die Fragen, die Journalist:innen damals stellten und die Bevölkerung offenbar besorgten, ähnelten heutigen postkolonialen Debatten, etwa: Sind die Befreiungskämpfer antiweiße Rassisten, verherrlicht ihr Kampf Gewalt? Auf letzteres ging Danilo Scholz ein. Er merkte an, heute könne man so einen Dokumentarfilm nicht mehr drehen, ohne dabei die Legitimität von Gewalt als Form des Widerstands infrage zu stellen. Dies könne man so im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht mehr zeigen.

Klassenkampf und Kapitalismus

Die Frage zu einem möglichen antiweißen Rassismus beantwortete einer der Sprecher der MPLA in Angola: Ausbeutung kenne keine Hautfarbe, genauso wenig wie der Kapitalismus selbst. Von der FPLN aus Portugal hieß es, dass Faschismus nicht von Klassenkampf trennbar sei, vom Kampf gegen den Kapitalismus. Gewalt sei der einzige Weg, sich zu befreien – ein brisanter Gedanke auch heute, da faschistoide Gedanken lautstark von einigen der reichsten Menschen der Welt vertreten werden.

Dass Algerien so bedeutend für den revolutionären Kampf wurde und man sogar davon sprach „Algier la blanche“ würde zu „Algier la rogue“, statt des „weißen“ das „rote“ Algier, liegt am erfolgreichen Befreiungskampf gegen Frankreich. Algerien war der erste afrikanische Flächenstaat, der 1962 die französische Fremdherrschaft militärisch beendete. Womöglich nicht trotz, sondern auch wegen der hohen Opferzahlen von bis zu einer Million ums Leben gekommener Menschen sei man darauf stolz gewesen, so Scholz. Man sah sich als Vorkämpfer für die Befreiung der unterdrückten Völker.

Der Spieß der Revolution

Mit einem Irrtum räumt der Film dabei auf: Dass Revolutionen spannende und in irgendeiner Form alternative Vorgänge wären. Algerien hatte den Revolutionären damals Diplomatenstatus verliehen, man sprach sich mit „Exzellenz“ an und diskutierte in Anzügen bei Cocktailabenden. Wüsste man nicht, wer hier gezeigt wird, teilweise mutet es an wie ein Empfang im Schloss Bellevue.

Zu der Zeit, als es noch den klassischen Kolonialismus gab, benutzte bereits ein Sprecher der FROLINAT aus dem Tschad den Begriff „Neokolonialismus“ und lieferte eine interessante Definition: Ein neokolonialistischer Staat sei einer, der private Interessen vertrete statt jene des Volkes. Der Tschad war zwar seit 1960 unabhängig, aber in den Augen der FROLINAT vertrat er nicht die Interessen der Bevölkerung, sondern jene der ehemaligen Kolonialmächte. Auch ein Vorwurf, der gerade mit Blick auf aktuelle Geschehnisse in Burkina-Faso, Mali und Niger nichts von seiner Bedeutung verloren hat.

Aber es gab einen großen Unterschied zu heute, zumindest gefühlt bei den Zuschauerinnen und Zuschauern. Am besten fasste ihn eine Teilnehmerin zusammen: „Es gab da diesen Moment, etwas zu verändern.“ Unabhängig, wie man nun zu dem Kampf seinerzeit steht, das Gefühl, etwas verändern zu können war beinahe greifbar. Es war eine Zeit vor dem „Ende des revolutionären Zeitalters“, wie es Scholz mit Blick auf eine Formulierung des Philosophen Axel Honneth ausdrückte.

Wenig Mehrwert

Empfehlenswert ist der Film auch für jene, die glauben, Deutschland habe mit dem Kolonialismus in Afrika nicht viel zu tun gehabt. Das hat nie gestimmt und die Sprecher der Bewegungen führen die BRD mehrmals an, wie sie unter anderem über ihre Konzerne koloniale Macht ausübe – quasi durch ökonomische Fremdherrschaft.

Einziges Manko an dem Abend waren Präsentation und Diskussion. Sowohl die einleitenden Worte von Scholz als auch die abschließenden nach dem Film und vor der Diskussion – es wurde nicht wirklich klar, was hier eigentlich die Botschaft sein soll. Warum schaut man diesen Film, wegen der Ausstellung im Museum Folkwang? Worin liegt die heutige Relevanz? Was soll man halten von einer Organisation wie der mosambikanischen FRELIMO, die als Befreiungsbewegung begann, aber mittlerweile seit der Unabhängigkeit Mosambiks 1975 durchgehend herrscht? Was sagen die Postcolonial Studies dazu? Fragen hätte es genug gegeben.

Die Diskussion hatte teils die Züge eines Gesprächs unter Eingeweihten: Duzend diskutierten eine Teilnehmerin und Scholz den Film im Vergleich mit William Kleins „Festival panafricain d’Alger“ von 1969. Von diesem wurden aber nur ein paar Sekundenausschnitte gezeigt, also war dieser Teil für nicht Eingeweihte – mutmaßlich eine ganze Menge – unverständlich. Es spricht nicht für eine gelungene Veranstaltung, wenn ihr größter Mehrwert das Sehen eines Films ist, der auf Youtube sowieso frei zugänglich ist.

Paul Tschierske

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