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Claude Lanzmann in der Lichtburg Essen
Foto: Lisa Mertens

Das Erfassen des Unbegreifbaren

27. Januar 2015

„Shoah“ in der Lichtburg Essen – Foyer 01/15

Essen, 25.1. – Am 27.1., jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zum 70. Mal. Auschwitz steht stellvertretend für den Holocaust, für die größte Katastrophe – Shoah (הַשּׁוֹאָה) – des 20. Jahrhunderts, wahrscheinlich sogar der ganzen Menschheitsgeschichte. Anlässlich dieses Ereignisses zeigte die Lichtburg Essen, initiiert von Professor Dr. Breyvogel und Christian Hillbrandt, das Monumentalwerk „Shoah“ von Claude Lanzmann in voller Länge. Zwei Wochen vor dem Termin war die Veranstaltung ausverkauft, etwa 450 Schüler waren unter den Anwesenden.

Das Sinnlose sinnvoll darstellen

Wie kann man ein solches Verbrechen gegen die Menschlichkeit begreifen, wie kann man darüber sprechen? Soll man sich die Bilder von den Opfern dieser Vernichtung vor Augen führen? Soll man die Grausamkeit über die Emotionen eines Spielfilms vermitteln? Claude Lanzmann geht mit seinem neunstündigen Film einen eigenen Weg. Er verzichtet auf Archivbilder, können sie doch das Unbegreifliche nicht wiedergeben. Er verwirft die Form des Spielfilms, ist dieser doch seiner Meinung nach blasphemisch und geradezu verachtend gegenüber den Opfern. Für ihn steht trotz der Unaussprechlichkeit des Verbrechens das Wort am Anfang der Annäherung. Nur Tatsachenberichte der Opfer, der Zeitzeugen und der Täter können versuchen, das Verbrechen in seiner Gänze zu fassen, wenn auch nicht begreifbar zu machen. Das gesprochene Wort ist präsent, wenn es auch die Spuren des Verbrechens nicht mehr sind. Denn mit der Vernichtung der Juden ging die Vernichtung der Spuren der Vernichtung einher. Dennoch ist der Film „Shoah“ keine Dokumentation, er ist Kunst. Dies hoben in der Lichtburg auch Professor Dr. Theweleit und Professor Dr. Rüsen in ihren Beiträgen zwischen den Filmabschnitten hervor. Die Ästhetik des Films, so Theweleit, sei kein Ergebnis von Zufälligkeiten, jede Sequenz sei sorgfältig inszeniert. Es sei die Kunst, führte Rüsen weiter aus, die das Paradoxon lösen könne, absolut Sinnloses sinnvoll darzustellen. Denn nichts anderes als unbedingt sinnlos sei der Holocaust, auch wenn es in der Geschichtswissenschaft Tradition sei, Ereignissen durch die Betrachtung des Davor und des Danach eine tiefere Bedeutung zu geben. Und auch Claude Lanzmann selbst gab an, dass die Kunst eine der geeigneteren Formen sei, den didaktisch schwierigen Weg zu bewältigen, Jugendlichen den Holocaust zu vermitteln.

„Wenn man lebt, ist Lächeln besser“

Berichte der ehemaligen jüdischen Häftlinge, die in die Vernichtungsmaschinerie gezwungen wurden und selbst Leichen aufsammeln, wegschleppen und verbrennen mussten, die sterben wollten und die sich nach dem Krieg dennoch entschlossen, weiterzuleben und sogar das Lächeln wiederzufinden; ein SS-Unterscharführer, der das „Fließband des Todes“ wie ein Aufklärer vor der versteckten Kamera erläutert; ein polnischer Lokführer, der die Deportationszüge fuhr und den Juden gegenüber die eindeutige Geste mit der Hand über die Kehle machte; polnische Dorfbewohner, die noch Anfang der 1980er offen antisemitische Vorurteile vorbrachten – Lanzmanns Herangehensweise, Opfer, Täter und Zeitzeugen für sich sprechen zu lassen, hinterließ in der Lichtburg sichtlich Eindruck.


Der Kinderchor singt aus der Oper Brundibár

„Ich habe kein Problem damit, einen Lügner zu belügen“

Im Gespräch mit Medienvertretern und im Anschluss mit dem Publikum zeigte sich der bald 90jährige Lanzmann zufrieden, dass sein Film in voller Länge und vor so vielen Zuschauern, darunter auch vielen Jugendlichen, gezeigt werde. Damals hatte er gehofft, dass doch mindestens 3000 Menschen seinen Film sehen würden. Nun wird er mittlerweile in vielen Ländern, in einigen auch im Geheimen, gezeigt und aufmerksam rezipiert. In China hatte man ihn sogar gefragt, wie er an die Aufarbeitung des Massakers von Nanking 1937 herangehen würde. Insgesamt machte Claude Lanzmann einen gelassenen Eindruck, der nichts erzwingen möchte und nicht den Anspruch erhebt, auf alle Fragen eine Antwort geben zu können. Oder auch zu müssen und zu wollen. Er wollte keine Einschätzung geben, ob der Antisemitismus in Deutschland wachse oder inwieweit der nationalsozialistische Terror der NSU im Zusammenhang stehe mit dem Holocaust, dafür kenne er Deutschland zu wenig. Er wollte auch keine Verbindung ziehen, zu dem Angriff auf Charlie Hebdo und dem jüdischen Supermarkt und reagierte teilweise mit Unverständnis, warum ihm diese Fragen gestellt werden. Locker beantwortete er die Frage, ob er den Namen des SS-Unterscharführers trotz gegenteiligem Versprechen hätte preisgeben dürfen: „Ich habe kein Problem damit, einen Lügner zu belügen. Und ich habe ihn nicht im Geheimen belogen, ich habe ihn vor der ganzen Welt belogen.“

Bis in die Nacht hinein folgten die Zuschauer den Worten der Zeitzeugen in der Lichtburg. Etwas, was 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz mit nun nur noch wenig Überlebenden immer wichtiger wird. Denn: „Jeder, der heute einem Zeugen zuhört, wird selbst ein Zeuge werden.“ (Elie Wiesel)

TEXT/ FOTO: LISA MERTENS

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