Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
18 19 20 21 22 23 24
25 26 27 28 29 30 1

12.584 Beiträge zu
3.811 Filmen im Forum

In der Tradition von Balzac und Zola: Der französische Erfolgsautor Éric Vuillard
Foto: Benjamin Trilling

Unerhörte Parteifinanzierung

07. September 2018

Éric Vuillard las am 8.9. im Essener Grillo-Theater aus „Die Tagesordnung“ – Literatur 09/18

Bourgeoisie ist so ein pathetisches Wort. Elegant und wild zugleich springt es Éric Vuillard über die Lippen, als er weit ausholt, um seine erzählerische Methode und damit ebenso das Verhältnis der Literatur zur Realität zu erläutern. Den Anfangspunkt seines weiten Bogens findet der Autor natürlich bei der Französischen Revolution. Denn, so Vuillard, über diesen Epochenumbruch: „Auf einmal interessierte sich der Leser für andere Sachen.“ Urbanisierung und Straßenmassen, Armut der Stadtbevölkerung und Reichtum der neuen Eliten – die moderne Realität fand Eingang in die französische Literatur des 19. Jahrhunderts. Und Vuillard mäandert entlang ihrer Klassiker. Balzac? „Er schaut genau in die Herzen rein, auch die der Bourgeoisie.“ Zola? „Auch er ist ein Zeichen dafür, dass es eine immer stärkere Hinwendung der Literatur zur Realität gibt.“ Vuillards Brille sitzt oft nur auf der Nasenspitze, zerfahren gestikuliert er mit den Händen, als möchte er dem Publikum diesen Turbomarsch durch die Geschichte der modernen, französischen Literatur vor Augen führen. Dann macht der Autor eine Pause. Damit die Dolmetscherin das Vorgetragene ins Deutsche übersetzen kann.

Um die Bourgeoisie geht es auch gleich eingangs in seinem Buch, aus dem Vuillard an diesem Abend im Café Central International des Grillo Theaters liest. Die Herren der großen Konzerne nehmen im Berliner Reichstagspräsidentenpalais Platz. Siemens, BASF, Opel, Allianz, Bayer und natürlich Krupp. Sie lauschen dem neuen Reichskanzler der kurzlebigen Weimarer Republik, Adolf Hitler. Und finden schnell Einigung in Fragen wie der kommunistischen Gefahr, dem Umgang mit den Gewerkschaften und dem Parlamentarismus. Die Nazis bitten die Unternehmer schließlich zur Kasse und die spenden großzügig Millionensummen, wie Vuillard schreibt: „Dieses Treffen vom 20. Februar 1933, in dem man einen einmaligen Moment der Arbeitgebergeschichte sehen könnte, ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis, ist für die Krupps, die Opels und die Siemens nicht mehr als eine alltägliche Episode des Geschäftslebens, ein banales Fundraising. Sie alle sollten das Regime überleben und in Zukunft mit ihren jeweiligen Erträgen noch weitere Parteien finanzieren.“

Auf nur 128 Seiten spannt der Franzose den Bogen bis zum Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. Für „Die Tagesordnung“ erhielt er im letzten Herbst den Prix Goncourt 2017, den wichtigsten Literaturpreis in Frankreich. Polemisch und provokant klingen viele Passagen. Seine „Annäherung an die Realität“ ist mit einer künstlerischen Haltung verbunden. „Wir müssen über die Realität schreiben“, sagt der 50-Jährige. „Es geht da um Menschen, die soziale und gesellschaftliche Probleme haben.“ Und das verknüpft er wie ein engagierter Schriftsteller alten Schlages mit einer Aufklärung und Anklage an Machenschaften der Mächtigen. „Ich bin der Ansicht, dass die Eliten noch heute eine entscheidende Rolle spielen“, so Vuillard. Abschreckend scheint sein aktuelles Buch noch heute für diese Eliten zu sein – trotz der historischen Distanz zum Thema Machtergreifung. Die Veranstalter hätten die Lesung gerne in der Villa Hügel abgehalten und haben dafür bei der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung angefragt. Doch die Verwalter der Stahl-Dynastie wollten nicht.

Benjamin Trilling

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Konklave

Lesen Sie dazu auch:

Der Sieg des Glaubens
„Führer und Verführer“ im Kölner Odeon mit Regisseur Joachim Lang – Foyer 07/24

Ernas Geschichte
Zweitzeugen e. V. leistet Erinnerungsarbeit – Spezial 08/21

Grab 'em by the power
Carolin Emcke mit „Ja heißt ja und...“ am 20.6. im Schauspielhaus Bochum – Literatur 06/19

Der Osten beginnt in Wattenscheid
Lesung mit Lucas Vogelsang und Joachim Król am 20.5. im Schauspielhaus Bochum – Literatur 06/19

Bindung nach der Flucht
Lesung „Hotel Dellbrück“ von Michael Göring am 12.2. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 02/19

Literarischer Trip
T.C. Boyle stellt seinen Roman über LSD-Papst Timothy Leary in Essen vor – Literatur 02/19

„Freud hätte diese Begegnung genossen“
Nikolaus Leytner über „Der Trafikant“ – Gespräch zum Film 11/18

Anekdoten nach Autoritätsverlust
Jan Weiler las am 26.4. in der Zeche Carl aus „Und ewig schläft das Pubertier“ – Literatur 05/18

Follow dem Popliteraten
Benjamin von Stuckrad-Barre las am 11.4. in der Zeche Bochum aus seinem neuen Remix-Band – Literatur 04/18

Paradise Lost
„Reportagen Live“ im Schauspielhaus Bochum – das Besondere 02/18

Tagebuch al dente
Andreas Rossmann stellt in der Buchhandlung Mirhoff & Fischer sizilianische Skizzen vor – Literatur 01/18

Poesie der Armen
Albert Camus „Der erste Mensch“ mit Joachim Król im Theater Dortmund – Literatur 01/18

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!