Bourgeoisie ist so ein pathetisches Wort. Elegant und wild zugleich springt es Éric Vuillard über die Lippen, als er weit ausholt, um seine erzählerische Methode und damit ebenso das Verhältnis der Literatur zur Realität zu erläutern. Den Anfangspunkt seines weiten Bogens findet der Autor natürlich bei der Französischen Revolution. Denn, so Vuillard, über diesen Epochenumbruch: „Auf einmal interessierte sich der Leser für andere Sachen.“ Urbanisierung und Straßenmassen, Armut der Stadtbevölkerung und Reichtum der neuen Eliten – die moderne Realität fand Eingang in die französische Literatur des 19. Jahrhunderts. Und Vuillard mäandert entlang ihrer Klassiker. Balzac? „Er schaut genau in die Herzen rein, auch die der Bourgeoisie.“ Zola? „Auch er ist ein Zeichen dafür, dass es eine immer stärkere Hinwendung der Literatur zur Realität gibt.“ Vuillards Brille sitzt oft nur auf der Nasenspitze, zerfahren gestikuliert er mit den Händen, als möchte er dem Publikum diesen Turbomarsch durch die Geschichte der modernen, französischen Literatur vor Augen führen. Dann macht der Autor eine Pause. Damit die Dolmetscherin das Vorgetragene ins Deutsche übersetzen kann.
Um die Bourgeoisie geht es auch gleich eingangs in seinem Buch, aus dem Vuillard an diesem Abend im Café Central International des Grillo Theaters liest. Die Herren der großen Konzerne nehmen im Berliner Reichstagspräsidentenpalais Platz. Siemens, BASF, Opel, Allianz, Bayer und natürlich Krupp. Sie lauschen dem neuen Reichskanzler der kurzlebigen Weimarer Republik, Adolf Hitler. Und finden schnell Einigung in Fragen wie der kommunistischen Gefahr, dem Umgang mit den Gewerkschaften und dem Parlamentarismus. Die Nazis bitten die Unternehmer schließlich zur Kasse und die spenden großzügig Millionensummen, wie Vuillard schreibt: „Dieses Treffen vom 20. Februar 1933, in dem man einen einmaligen Moment der Arbeitgebergeschichte sehen könnte, ein unerhörtes Zugeständnis an die Nazis, ist für die Krupps, die Opels und die Siemens nicht mehr als eine alltägliche Episode des Geschäftslebens, ein banales Fundraising. Sie alle sollten das Regime überleben und in Zukunft mit ihren jeweiligen Erträgen noch weitere Parteien finanzieren.“
Auf nur 128 Seiten spannt der Franzose den Bogen bis zum Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. Für „Die Tagesordnung“ erhielt er im letzten Herbst den Prix Goncourt 2017, den wichtigsten Literaturpreis in Frankreich. Polemisch und provokant klingen viele Passagen. Seine „Annäherung an die Realität“ ist mit einer künstlerischen Haltung verbunden. „Wir müssen über die Realität schreiben“, sagt der 50-Jährige. „Es geht da um Menschen, die soziale und gesellschaftliche Probleme haben.“ Und das verknüpft er wie ein engagierter Schriftsteller alten Schlages mit einer Aufklärung und Anklage an Machenschaften der Mächtigen. „Ich bin der Ansicht, dass die Eliten noch heute eine entscheidende Rolle spielen“, so Vuillard. Abschreckend scheint sein aktuelles Buch noch heute für diese Eliten zu sein – trotz der historischen Distanz zum Thema Machtergreifung. Die Veranstalter hätten die Lesung gerne in der Villa Hügel abgehalten und haben dafür bei der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung angefragt. Doch die Verwalter der Stahl-Dynastie wollten nicht.
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